Das werden die gefühlten Fakten des Bundestagswahlkampfs

Angela Merkel muss sich zurzeit nicht besonders vor Herausforderer Martin Schulz fürchten (Bild: dpa)
Angela Merkel muss sich zurzeit nicht besonders vor Herausforderer Martin Schulz fürchten (Bild: dpa)

Union und SPD agieren in der Politik gleich – nur die einen kommen gut an und die anderen schlecht. Das Geheimnis: Macht macht sexy.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Vielleicht gibt es doch so genannte alternative Fakten. Oder zumindest gefühlte, welche viel stärker durchwirken als ursprünglich angenommen. Bisher dachte ich immer: Fakten sind nur unumschiffbar, wenn man sich ganzheitlich einer Halluzination unterwirft, in etwa wie der Buspassagier, mit dem ich gestern die Ehre hatte, zwei Stationen zu fahren. Der hatte auch eine eigenartige Auffassung von der Wirklichkeit.

Er quatschte die Passagierin neben ihm an, beide Senioren. Er begann mit der obligatorischen Unfreundlichkeit der jungen Leute, an der ja auch etwas dran ist. Dann wechselte er über zur Schulmisere und wie viele Beleidigungen sich die Lehrer von den Schülern anzuhören hätten. Nunja, kann sein. Derzeit sind alle ein wenig nervös. Schließlich aber fand er seinen roten Faden und gipfelte in: „Und natürlich sind es vor allem die Ausländerkinder, die die Lehrer mit Schimpfwörtern anmachen!“

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Ich stand daneben und konnte mir die Nachfrage nicht verkneifen, woher er dieses Wissen schöpfe. Solch eine Beschimpfungsstatistik würde ich echt gern einsehen. Der Herr schaute mich fassungslos an und meinte nur: „Und was war gestern in Cottbus? Das mit dem Messerangriff?“

Leider musste ich sofort aussteigen, ich musste, ironischerweise, zu einer Schule. Daher weiß ich nicht, was vorgestern in Cottbus los war, es interessiert mich auch nicht brennend. In Berlin gab es allein gestern drei körperliche Übergriffe, laut Polizeibericht. Und zwei Überfälle sowie eine „fremdenfeindliche Beleidigung“. Was in Cottbus nun so Herausragendes passiert ist, dass es eine qualifizierte Aussage zur ethnischen Differenzierung von Beleidigungen in Klassenzimmern begründet, blieb das Geheimnis des Herrn. Seiner Sitznachbarin wurde das auch ein wenig peinlich, sie rückte immer weiter weg. Wie schön, dass wir die „Ausländerkinder“ haben, die sind nun also auch verantwortlich für die Schimpfwörter in unserem Land. Jeder hat halt seine Aufgabe.

Wirkung als Zaubertrank

Wenn ich mir nun den sich langsam anschwellenden Bundestagswahlkampf anschaue, so schwant mir, dass es auch dort gefühlte Fakten geben könnte. Die Ausgangslage: Beide Kontrahenten, Union und SPD, glänzen durch Chaos im oder Mangel an Programm. Der Wähler weiß nicht wirklich, welche Grundlagen diese Parteien verfolgen wollen, für die kommende Legislatur.

Die SPD ruhte sich zuerst im Schulz-Zug aus und steht nun verdutzt, weil sie die programmatische Fahrkarte nicht gelöst hat, herausgeschmissen auf dem Bahnsteig herum. CDU und CSU dagegen haben beschlossen, sich vorerst zu mögen. Die inhaltlichen Streitpunkte über doppelte Staatsbürgerschaft, Steuerminderung, Familienförderung oder die „Obergrenze“ für Geflüchtete sind nicht beigelegt worden – man redet halt nicht drüber. Überhaupt mag man in der Union nicht allzu sehr Diskussionen: Das Wahlkampfprogramm wird im kleinen Rahmen erarbeitet und beschlossen werden, während in der SPD die Genossen gern alles kommentieren und auch in Hintertupfingen ihren Senf beisteuern.

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Nur wirkt das gerade höchst unterschiedlich. Im Land läuft es gerade, Arbeitsmarkt und staatliche Einnahmen stehen gut da. Die Union präsentiert sich als Winning Team, und die SPD rund um ihren Spitzenkandidaten als trauriger Tropf. Das ist eine gefühlte Wirklichkeit. Echt faktisch lässt sich dies nicht erkennen, ist trotzdem da.

Für den Bundestagswahlkampf heißt das, dass es für die Parteien vor allem auf die Anglizismen „Flow“ und „Spirit“ ankommen wird. Die Entspanntheit eines gefühlten Siegers wird beim Wähler am besten wirken. Derzeit rennt eine große Gruppe in unserem Land mal in die eine, dann in die andere Richtung. Nicht lang ist es her, da galt Kanzlerin Angela Merkel als quasi abgewählt. Heute sitzt sie wie unverrückbar im Amt. Und Schulz wurde vor kurzem als Messias gefeiert; heute belächelt man ihn.

Das kann sich bis zum Herbst wieder ändern, auch mehrmals. Der Mechanismus des „Hosianna“ und „Kreuzigt ihn“ könnte zum Merkmal werden.

Ein bisschen macht mir das Angst, unabhängig vom Wahlausgang. Sind wir so volatil geworden, so verunsichert und hyperaktiv? Haben Inhalte, Programmatik und Ideologie überhaupt noch eine Strahlkraft? In dieser gefühlten Wirklichkeit fühle ich mich nicht wohl.

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