EM-Kolumne von Pit Gottschalk - Bellingham ist zwar genial - und treibt mich trotzdem zur Weißglut

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Geniestreiche wie der Fallrückzieher von England-Star Jude Bellingham gegen die Slowakei begeistern Fußballfans in aller Welt. Unseren EM-Kolumnisten aber stören die Arroganz-Anfälle beim Briten. Er kennt die Allüren noch von Borussia Dortmund.

Die halbe Nacht ging mir die Szene der Engländer aus der letzten Minute der Nachspielzeit nicht mehr aus dem Kopf. Einwurf von rechts, Bellingham Fallrückzieher, Ausgleich und Verlängerung: Da war er wieder, der magische Moment, den nur Jude Bellingham auf den Rasen zaubert. England liebt ihn dafür.

Mit seinem Geniestreich bewahrte er die Nation vor ihrer vielleicht größten EM-Blamage. Der Rest war Formsache: Siegtor gegen die Slowakei, Einzug ins Viertelfinale. Entscheidend war Bellingham. So machen Führungsspieler das. Man vergisst dann schnell: Er ist erst 21.

Bellinghams Torjubel und der Anfall der Allüren

Trotzdem treibt er mich zur Weißglut. Die Engländer waren mit ihrem Grottenkick praktisch ausgeschieden, das ganze Turnier ist ein Desaster. Man weiß bis heute nicht, wie und warum sie fünf Punkte in der Vorrunde gehamstert haben und jetzt zu den besten acht Teams gehören.

Bellingham aber posiert nach seinem Fallrückzieher-Tor vor den TV-Kameras dieser Welt, als habe er England gerade zur Europameisterschaft geschossen. Er zieht Harry Kane zu sich heran, breitet die Arme aus und kratzt sich irgendwann dort, wo solche Männer ihr Gemächt vermuten.

In Dortmund wurden sie fast verrückt wegen Bellingham

Ein Arroganz-Anfall in krassem Gegensatz zur Realität. Keine Demut, kein Respekt vor dem Gegner, keine Selbstkritik: So kennt man Bellingham jetzt. Mit seinem jungen Alter alleine sind die Allüren nicht erklärbar. Beim BVB sind sie deshalb fast verrückt geworden.

Drei Jahre hat er dort gespielt und seine Ablösesumme von 30 auf 103 Millionen Euro mehr als verdreifacht. Die Dortmunder liebten seine Kreativität im Mittelfeld. Der Preis dafür war hoch. Zuletzt ließ er jeden Mitspieler spüren, wer für Geniestreiche zuständig war und wer für Laufarbeit.

Bei Real Madrid soll er ganz anders sein. Da hatte er in seiner ersten Saison Weltstars um sich herum, die ein bisschen mehr gewonnen und erreicht haben als er. Toni Kroos und Luka Modric zum Beispiel. Aber wehe, keiner in der Mannschaft kann aus seiner Sicht mithalten: Dann ist er schwer ertragbar.

Bei England bleibt nur Bellingham

In England haben sie keine Wahl: Sie müssen ihn nehmen, wie er ist. Bellingham ist der einzige, der Leistung verspricht. Harry Kane: ein Schatten seiner Selbst und nicht vergleichbar mit dem Bayern-Kane. Phil Foden: fleißig, aber wirkungslos. Der Rest: allenfalls Mittelmaß.

Bleibt also Bellingham. Keine 24 Stunden später hat er sich für seine Geste in Richtung Unterleib entschuldigt und als Botschaft an Freunde deklariert. Man glaubt es ihm nicht wirklich. Er ist ja Wiederholungstäter. Bei Sloweniens Hymne kniete er auf dem Rasen und schnürte seine Schuhe.

Für Bellinghams arroganten Auftritt nach dem Tor habe ich nur eine Erklärung

Gegen Bellingham soll nun sogar ermittelt werden wegen der obszönen Bewegung nach seinem Tor. Droht dem England-Star sogar eine Sperre im Viertelfinale?

Bestenfalls mag ich ihm zugute halten: Er war im Tunnel und überriss nicht die Situation. Ich könnte auch anders argumentieren: Die Würde des Augenblicks bei einem Länderspiel ist ihm egal und der Respekt vor dem Gegner gleich. Wirkliche Weltstars zeichnet aber das Gegenteil aus.

Ich fürchte, die Ermahnung von Christoph Kramer kommt nicht an

So prall gefüllt ist sein Trophäenschrank ja nicht, dass er schon auf dicke Hose machen sollte. DFB-Pokalsieger mit Borussia Dortmund, Spanischer Meister und zuletzt Champions-League-Sieger mit Real Madrid: That’s it. Für einen Engländer nicht schlecht. Aber das rechtfertigt nicht sein Auftreten.

Ich stelle mir seine Situation ganz einfach vor: Du verdienst ein Heidengeld und bist inzwischen 180 Millionen Euro wert, alle Menschen in der Heimat vertrauen dir und widmen dir sogar einen Song des legendären John Lennon: „Hey Jude!“ Du verlierst dann jede Bodenhaftung.

Sein Trainer überspielt das alles mit einer Gönnerhaftigkeit, die nur damit zu erklären ist, dass Bellingham ihm regelmäßig den Arbeitsplatz rettet. „Er wird Sachen sagen und reagieren, wie das ein junger Mann macht, aber er kann große Spiele entscheiden“, sagt Gareth Southgate.

ZDF-Experte Christoph Kramer, immerhin Weltmeister, ist nicht so nachsichtig mit Bellingham: „Er muss nur insgesamt aufpassen, dass er nicht anfängt, Allüren zu bekommen in dem ganz jungen Alter.“ Ich fürchte: Die Ermahnung kommt zu spät - oder erst gar nicht an.