EM-Kolumne von Pit Gottschalk - Die Engländer nerven uns tierisch - aber um eine Fähigkeit beneidet sie ganz Europa

Die Engländer bejubeln den Finaleinzug bei der EM<span class="copyright">Imago</span>
Die Engländer bejubeln den Finaleinzug bei der EMImago

Wochenlang haben wir uns über den Antifußball von der Insel aufgeregt. Am Ende darf Trainer Gareth Southgate alle Kritiker auslachen: England steht am Sonntag im EM-Finale gegen Spanien. Unser EM-Kolumnist traut ihnen sogar den Titelgewinn zu - mit den deutschen Tugenden.

Es ist keine zwei Wochen her, dass Zuschauer Trinkbecher nach Gareth Southgate geschmissen haben. Offensichtlich provozierte der Fußball, den der Trainer seinen Engländern verordnet hatte, zu dummen Kurzschlusshandlungen. Und tatsächlich: Seine Mauertaktik war kaum zu ertragen.

Als mir Southgate jetzt in der Pressekonferenz gegenüber sitzt, ist von Genugtuung oder sogar Schadenfreude nichts zu spüren. Er hätte allen Grund dazu: England hat gerade die Niederlande 2:1 besiegt und steht zum zweiten Mal nach 2021 im EM-Finale. Er ist jetzt ein gefeierter Held in der Heimat.

Alles prallt an Southgate und seinen Engländern ab

Mehr noch: Ein Endspiel außerhalb der Insel hat noch nie ein englischer Nationaltrainer aus dem Mutterland des Fußballs erreicht. „Ich hoffe“, sagte Southgate fast kleinlaut, „dass das Team den Menschen in der Heimat einen der besten Abenden der letzten 50 Jahre beschert hat.“

Kritik, Häme, Dauerbeschuss: Alles prallt an Southgate und seinen Engländern ab. Es ist schon fast unheimlich.

Wochenlang nerven sie Fußballfans weltweit mit Ballgeschiebe und Langeweile. Und sind jetzt dort, wo die Deutschen mit ihrem Hurra-Fußball gerne wären: Sonntag im Finale.

Plötzlich stürzen Weltbilder ein. Die Engländer, das wussten wir immer, haben vielleicht die beste und teuerste Liga in ganz Europa. Aber ihre Nationalmannschaft ist ein Witz, waren wir uns sicher: Wir haben vier WM-Sterne, die Engländer nur einen einzigen - von 1966. Das ist 58 Jahre her.

Harry Kane, Kyle Walker<span class="copyright">Imago</span>
Harry Kane, Kyle WalkerImago

Ja, sie haben Harry Kane und Jude Bellingham, zwei Superstars aus der Königsklasse. Aber der eine hat noch nie einen Titel gewonnen, nicht mal in seinem ersten Jahr beim FC Bayern, und der andere ist ein Rotzlöffel, der beim Torjubel sein Gemächt richtet. Den nimmt man nicht ernst.

Minimalisten-Fußball aus England: Der nervte bei dieser EM tierisch

Im Achtelfinale waren sie praktisch ausgeschieden, wir dürfen das nicht vergessen. Gegen die Slowakei lagen sie 0:1 zurück, als ihnen der Schiedsrichter, warum auch immer, sechs Minuten Nachspielzeit schenkte und Bellingham in allerletzter Sekunde ausglich - per Fallrückzieher.

So ging das die ganze Zeit. Immer nur so hoch springen, wie man muss. Einerseits: England kassierte in den nun sechs EM-Spielen nie mehr als einen Treffer. Andererseits: Jeder Sieg fiel mit maximal einem Tor Unterschied aus. Man nennt das: Minimalisten-Fußball. Der nervt tierisch.

Das neue England: einfach unkaputtbar

Dieses Sichdurchschlängeln durchs Turnier, ein Vorbeifahren auf der Kriechspur, trieb mich zum Wutanfall. Ich schrieb von einem „Desaster“, das England zeigt, und titelte zu Bellingham: „Er ist zwar genial - und treibt mich trotzdem zur Weißglut.“ Der Konter folgte zehn Tage später: Finale.

Das ist das neue England: einfach unkaputtbar. Gegen die Niederlande lagen sie wieder zurück, obwohl sie diesmal, oh Wunder, ansehnlichen Fußball zeigten. Ob der Strafstoß zum Ausgleich berechtigt war: keine Ahnung. Der deutsche Schiedsrichter Zwayer hat den Videobeweis genutzt.

Bezeichnend ist das Siegtor: Southgate holte zehn Minuten vor Abpfiff seinen Kapitän Harry Kane vom Platz, obwohl die Verlängerung drohte und damit Elfmeterschießen. Kane gilt als ein sicherer Schütze. Dann passierte das Unvorstellbare: Ausgerechnet Ersatzmann Ollie Watkins traf.

Alles an Southgate drückt Beharrlichkeit aus

Jetzt sitzt Southgate hier in der Pressekonferenz und redet, als sei das alles Teil eines Plans. Wenn er lächelt, wirkt er richtig sympathisch. Vielleicht lächelt er deswegen so selten. Alles an ihm drückt Beharrlichkeit aus, Penetranz, innere Überzeugung. Seine Engländer machen einfach, was sie wollen.

Das nötigt Bewunderung ab. Finalgegner ist Spanien mit seinen Wunderkindern. Schon Angst? Southgate sagt: „Es ist ein Finale.“ Was übersetzt heißen soll: Alles ist möglich. Sogar ein EM-Sieg Englands. Man hat ihn ja schon oft totgesagt. Der Überlebenskünstler, seit 2016 im Amt, sitzt immer noch hier.

Was uns nachdenklich stimmen sollten: Die Tommys, der Begriff sei in diesem Zusammenhang gestattet, zeigen unsere deutschen Tugenden. Im Viertelfinale, man glaubt’s kaum, haben sie sogar ein Elfmeterschießen ohne Fehlschuss gewonnen (gegen die Schweiz).

„Ein Lebensziel, mal zu sehen, wie England etwas gewinnt“

Hallo, geht’s noch? England und Elfmeterschießen: Das war ein Widerspruch in sich. 1990 und 1996 hatten sie mit dem Elfer-Duell gegen Deutschland auch den Glauben verloren, dass ihre Nationalspieler jemals etwas Silber nach Hause bringen.

Berühmt wurde der Satz der England-Legende Gary Lineker: „Fußball ist, wenn 22 Männer einem Ball nachlaufen und am Ende die Deutschen gewinnen.“ Derselbe Lineker kann sich heute, mehr als drei Jahrzehnte später, am englischen Antifußball nicht sattsehen.

Er sagte vor dem Halbfinale: „Deutschland ist raus. Ich würde lieber langweiligen Fußball sehen und gewinnen. Es ist ein Lebensziel von mir, mal zu sehen, wie England irgendetwas gewinnt.“ Gareth Southgate, Elfer-Versager von 1990, wird ihm diesen Traum wohl erfüllen.