Gastbeitrag von Gabor Steingart - Und dann sagt die ARD-Stylistin zu Heil: „In welcher Welt leben Sie eigentlich?“

Hubertus Heil (SPD) beim Festakt der Hans-Böckler-Stiftung zu 75 Jahre Tarifvertragsgesetz.<span class="copyright">Britta Pedersen/dpa</span>
Hubertus Heil (SPD) beim Festakt der Hans-Böckler-Stiftung zu 75 Jahre Tarifvertragsgesetz.Britta Pedersen/dpa

Die Deutschen sind genervt vom strengen Geruch des Eigenlobs, der unsere Regierung umweht. Tonalität und Tatsachen passen nicht zusammen. Im Schminkzimmer einer ARD-Show zeigt sich, wie viele Deutsche fühlen.

Falls der Bundeskanzler sich auf dem Weg in die Sommerfrische fragt, was denn falsch läuft mit ihm und seiner Regierung, könnte ihm der Demoskop Prof. Manfred Güllner präzise antworten.

Erstens: Die Deutschen quält weniger der Rechtsruck, den die SPD so leidenschaftlich bekämpft, als vielmehr der Druckabfall, der auf dem Armaturenbrett der Volkswirtschaft angezeigt wird. Da drehen die Aggregate im roten Bereich.

Zweitens: Die Deutschen nervt der strenge Geruch des Eigenlobs, der diese Regierung umweht. Jedes Papiergeraschel wird als „Doppelwumms“ (Scholz) und jede Flickschusterei – wie die zum Haushalt 2025 – als „Gesamtkunstwerk“ (Scholz) gefeiert. Tonalität und Tatsachen passen nicht zusammen.

Man kann die Schmerzpunkte der Deutschen fühlen, wenn man sie fühlen will

Man kann diese Schmerzpunkte der Deutschen aber auch im wahren Leben hören, sehen und fühlen, wenn man sie denn hören, sehen und fühlen will. Vielleicht sollte der Kanzler mal bei seinem Arbeits- und Sozialminister nachfragen.

Der Hintergrund: In den Glücksmomenten des Lebens verdichtet sich eine komplexe politische Situation in einer einzigen Szene. So wie kürzlich in der Maske, also im kleinen Schminkzimmer der Talkshow von Sandra Maischberger.

Neben mir: Hubertus Heil vor einem großen Spiegel. Zwei Frauen, die erkennbar ihr Handwerk verstanden, mühten sich, uns beide gut aussehen zu lassen. Der Niedersachse Heil war bestens aufgelegt. Seine Jovialität wirkte ansteckend, zumindest auf mich.

„In welcher Welt leben Sie eigentlich?“

Nicht allerdings auf die Frau, die ihn schminkte und frisierte. Er hatte gerade stolz vom Rückgang der Inflationsraten berichtet, der ihn positiv stimme, auch mit Blick auf Reallöhne und Zinsen. Erkennbar redete er sich in Schwung für seinen unmittelbar bevorstehenden TV-Auftritt.

Ich nickte aufmunternd. Sie aber fuhr ihm harsch in die Parade: „In welcher Welt leben Sie eigentlich?“

In ihrer Welt, sprudelte sie los, gehe nichts zurück. Was er eigentlich glaube, warum sie in ihrem Alter spätabends hier im Schminkzimmer der ARD-Show arbeite? Und die Antwort lieferte sie frisch und frank gleich mit.

Sie arbeite, weil die Rente vorn und hinten nicht reiche. Weil alles immer teurer werde. Weil die Preise nie wieder gesunken seien, nur mittlerweile langsamer steigen. Beim Einkaufen denke sie jedes Mal: Wahnsinn.

Willkommen in der Wirklichkeit!

Die Frau hat recht – und der Minister auch. Wahrheit gibt es nur zu zweien, hätte Hannah Arendt zu diesem Mutausbruch gesagt.

# Trügerische Inflationsberechnung

Nicht die Preise gehen zurück, nur das Tempo der Geldentwertung verlangsamt sich. Die EZB spricht von der Rückkehr zum Zwei-Prozent-Ziel – aber das misst eben nur den Anstieg nach dem Anstieg, dem bereits ein Anstieg vorausgegangen war.

Betrachtet man die Entwicklung seit 2020, haben die Preise im Warenkorb um knapp 20 Prozent zugelegt. Das bedeutet: Das Geld hat sich auch dann entwertet, wenn die EZB (und die Politik) den Kampf gegen die Inflation für beendet erklären.

# Falsche Reallohnbetrachtung

Wahr ist: Die Löhne steigen wieder. Die Reallöhne lagen im ersten Quartal 2024 um 3,8 Prozent höher als im Vorjahresquartal. Das war „das stärkste Reallohnwachstum im Vorjahresvergleich seit Beginn der Zeitreihe 2008“, so das Statistische Bundesamt. Das ist erfreulich.

Aber dieser Anstieg macht die Reallohnverluste aus der Zeit des Post-Corona-Schocks nicht ungeschehen. Die Preise für Nahrungsmittel stiegen seit 2020 laut Statistischem Bundesamt um 32 Prozent. Benzin ist um 45 Prozent teurer geworden.

Der Besuch im Restaurant kostet heute 26 Prozent mehr als 2020. Deshalb bleibt – trotz gestiegener Lohnsumme – weniger Netto vom Brutto. Wer die Jahre 2020 und 2024 miteinander vergleicht, stellt fest: Unterm Strich steht immer noch ein Reallohnverlust.

# Die Gewinnschrumpfung

Die erneut steigenden Löhne haben eine spürbare Auswirkung auf die Unternehmensgewinne. Beide Aggregate verhalten sich – zumal in einer statischen Volkswirtschaft ohne Innovationstreiber – zueinander wie kommunizierende Röhren. Prof. Isabel Schnabel sagte, als sie kürzlich beim Petersberger Sommerdialog vorgetragen hatte: „Die Firmen absorbieren höhere Lohnkosten in den Gewinnmargen.“

# Die große Stagnation

Das bedeutet: Die Wirtschaft wächst zwar wieder, aber nur in homöopathischen Dosen. Dieses Mini-Wachstum erreicht die Mehrzahl der Beschäftigten und die Bilanzen der Firmen nicht.

Ganze Branchen wie die Bauindustrie, die Immobilienwirtschaft, aber auch die Automobil- und Chemieindustrie melden an ihren deutschen Standorten Stagnation oder Schrumpfung. Die Chefvolkswirte der großen Banken erwarten auch für 2025 einen Aufschwung ohne Schwung.

Fazit: Ökonomen und Politiker bewohnen eine Relativwelt; echte Menschen eine Welt des Primären. Ihnen reicht der Blick auf Lohnzettel und Kassenbon, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hat.

Vielleicht sollte Sandra Maischberger zur nächsten Talkrunde nicht nur Hubertus Heil, sondern auch die furchtlose Frau aus dem Schminkzimmer einladen – als Chefvolkswirtin des praktischen Lebens.