Kolumne von Ana-Cristina Grohnert - Eigentlich brauchen wir direkt noch eine EM - in kluger Politik

Ana-Cristina-Grohnert: "Die demokratischen Kräfte in unserem Land müssen jetzt zeigen, dass sie verstanden haben. Dass sie, endlich, ihr Defensivspiel beenden und wieder nach vorne stürmen".<span class="copyright">imago/Grohnert</span>
Ana-Cristina-Grohnert: "Die demokratischen Kräfte in unserem Land müssen jetzt zeigen, dass sie verstanden haben. Dass sie, endlich, ihr Defensivspiel beenden und wieder nach vorne stürmen".imago/Grohnert

Die Europawahl hat gezeigt: Unsere Demokratie lebt und ist stärker als je zuvor! Mit der höchsten Wahlbeteiligung seit 1979 und einer engagierten Jugend, die die politischen Landschaften neu formt, stehen die Zeichen auf Veränderung in Europa. Was uns jetzt noch fehlt: eine Europameisterschaft in kluger Politik.

Fußballer-Weisheiten sind ja manchmal auch in der 1. Liga der Politik ganz hilfreich. Nehmen wir die Europawahl vor einem Monat. Pessimisten mögen an dieser Stelle den großen Philosophen Otto Rehagel zitieren: „Mal verliert man und mal gewinnen die anderen.“

Während sich die Optimisten zwar über das Erstarken der Rechten ärgern, aber schon wieder nach vorn gucken – und es mit Matthias Sammer nehmen: „Das nächste Spiel ist immer das nächste.“

Zugegeben, auch das ist nicht optimal gelaufen. Bei den Parlamentswahlen in Frankreich haben nach dem Erfolg der Rechtspopulisten in der ersten Runde zwar nun im zweiten Wahlgang die Linken überraschend stark abgeschnitten, aber nun sind die Mehrheitsverhältnisse extrem kompliziert.

Unsere Demokratie lebt

Aber droht der Demokratie das „Aus, Aus, das Spiel ist aus“?

Ich bin mir sicher: Das Gegenteil ist der Fall, unsere Demokratie lebt.

Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen lag in Deutschland bei 64,78 Prozent. Das war der höchste Wert seit 1979 und ein Gruppensieg in Europa.

 

Was heißt das? Wir in Deutschland interessieren und engagieren uns für Europa. Genau wie die meisten Deutschen haben auch die meisten anderen Europäer bei demokratischen Parteien das Kreuz gemacht. Allein Christdemokraten (189 Sitze), Sozialdemokraten (136), Liberale (74) und Grüne (51) kommen zusammen auf 450 der 720 Sitze im neu gewählten Parlament in Brüssel.

Wahlverhalten junger Menschen hat mich bewegt

Was mich bewegt hat, war das Wahlverhalten junger Menschen. Mit der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre hat die Generation Z eine mächtige Stimme bekommen. Ich finde das gut. Und beobachte gleichzeitig bei uns Älteren häufig eine Arroganz gegenüber der jungen Generation. Dabei hat uns unsere Fußball-Nationalmannschaft mit ihrem kreativen Spiel und gutem Teamgeist gezeigt, dass uns gerade die Mischung aus jungen und erfahrenen Spielern weiterbringt – auch wenn es im Viertelfinale leider nicht gereicht hat.

Das gilt für alle Bereiche. So wie junge Menschen heute die Arbeitswelt neu erfinden – für sich und für uns alle –, so erfinden sie auch den Politikbetrieb neu. Mehr als ein Drittel von ihnen gab bei der Europawahl Kleinstparteien die Stimme. Mehr als die Hälfte wählte eine Partei, die noch nie in Regierungsverantwortung war – ja, da auch die AfD.

 

Laut der Studie „Jugend in Deutschland“ sind junge Menschen so pessimistisch wie noch nie. Wir sollten das nicht als Bedrohung empfinden, sondern endlich lernen, sie ernst zu nehmen.

Eine Demokratie muss Gegenströmungen aushalten

Eine Demokratie muss Gegenströmungen aushalten. Eine Demokratie braucht sogar Gegenströmungen, um sich weiterzuentwickeln. Das haben wir schon im Jahr 1968 gesehen, als die Studentenbewegung unsere Gesellschaft deutlich modernisiert und aufgefrischt hat.

Es ist noch ein gutes Jahr bis zur Bundestagswahl. Und „es ist nichts scheißer als Platz 2“, wie schon Erik Meijer wusste. Daher brauchen wir jetzt kein Sommermärchen 2.0., sondern eine Europameisterschaft in kluger Politik. Eine Legislaturperiode dauert vier Jahre, und es ist wie auf’m Rasen: gekämpft wird bis zur letzten Minute.

Die demokratischen Kräfte in unserem Land müssen jetzt zeigen, dass sie verstanden haben. Dass sie, endlich, ihr Defensivspiel beenden und wieder nach vorne stürmen. Kurz: Es braucht jetzt eine kluge Taktik, damit Gary Lineker Recht behält: „Am Ende gewinnt immer Deutschland.“ Jetzt in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und in zwei Jahren vielleicht auch bei der Fußball-WM.