Kommentar - Ich bewundere die Leidenschaft der Türken, aber das Wichtigste müssen sie noch lernen
Die Türkei schlägt Österreich im EM-Achtelfinale und zieht sensationell eine Runde weiter. In Leipzig ist es auch eine Stimmungsexplosion der türkischen Fans. Unser Reporter bewundert die Leidenschaft, vermisst aber in einem besonderen Moment die wichtigste Eigenschaft im Fußball
Die Mannschaft versammelt sich um den Mittelkreis. Hier sind sie allen Fans am nächsten. Die Türken sind nämlich überall im Stadion, nicht nur auf ihrer Fan-Seite im Leipziger Stadion.
„Türkiye! Türkiye! Türkiye!“ hallt es durch die Arena. Ein Schlachtruf, der selbst an der Thomaskirche in der Innenstadt noch zu hören sein muss. Die Spieler im Zentrum des Stadions machen ihn vor, alle stimmen ein. Beeindruckendes Schauspiel! Später werden im Kreis die einzelnen Helden geehrt, erst Doppeltorschütze Merih Demiral , dann Keeper Mert Günok. Seine Parade in letzter Sekunde hielt den knappen 2:1-Sieg
über Österreich im EM-Viertelfinale fest.
Türkische Spieler zollen Österreich Respekt, nur die Fans nicht
Als dann die österreichische Mannschaft aus der eigenen Fankurve kommend traurig in die Kabine geht, wenden sich die türkischen Spieler zu ihr und zollen ihr per Applaus Respekt für den zuvor mehr als 90 Minuten langen Kampf ums Viertelfinale. Eine schöne Geste – nur aus dem türkischen Block hallt es: „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen…“
Es hätte ein so schöner Moment werden können, zwei Nationen, die sich nach einem erbitterten sportlichen Wettkampf die Liebe schenken, die sie beide verdient haben. Schade.
Türken beeindrucken mit ansteckender Leidenschaft
Denn sowohl sportlich als auch stimmungsmäßig liefern sich die Türkei und Österreich zuvor ein grandioses Duell. So muss ein Fußballspiel sein!
Vor allem die Türken haben von der ersten Spielminute an, als ihr Team sensationell in Führung geht, allen Grund zum Jubel. Ich beobachte die Ränge und sehe pure Leidenschaft. Diese Emotionen sind elektrisierend, ansteckend. Dafür bewundere ich sie.
Die Becherwerfer: Die größte Plage der EM
Leider überdrehen manche in ihren Emotionen. Aus ihrer Liebe für ihr Land wird Hass für den Gegner. In Leipzig spiegelt sich das in den beschämenden Becherwürfen auf die Spieler wider. Bei jedem Eckball fliegen die Gefäße aufs Feld in Richtung Spieler. Ein Vorpeitscher der Fans versucht im Innenraum immer wieder mit fuchtelnden Armen zu beschwichtigen. Erfolglos.
Österreichs Marcel Sabitzer wird sogar von einer Münze getroffen, fällt zu Boden und muss kurz behandelt werden. Zum Glück kann er sofort weiterspielen.
Warum macht man so etwas? Warum wirft man harte Gegenstände auf Fußballer: Mit der Absicht, sie zu verletzen? Woher kommt das?
Auch die österreichischen Fans machen dabei leider mit, bewerfen das 19-jährige Wunderkind Arda Güler. Ohnehin ist es eine der größten Plagen dieser EM, aus vielen Fankurven fliegen Becher – auch bei Spielen mit deutscher Beteiligung.
Konsequenzen? Nicht für die Täter, nur die Verbände müssen blechen. Für das Vergehen im Gruppenduell mit Ungarn musste beispielsweise der Schweizerische Fußballverband (SFV) 40.000 Franken zahlen.
Die türkischen Pfiffe bleiben im Ohr
Neben den Becherwürfen fallen die Türken auch im Duell mit Österreich für das konsequente Pfeifen auf. Bei jeder Ballbesitzphase des Gegners dröhnt es irre laut durch das Stadion. Wer schon mal ein türkisches Fußballspiel gesehen hat, der weiß, das Pfeifen gehört zum Fansein im Stadion bei den Türken dazu.
Nach dem Testspiel zwischen Deutschland und Türkei im vergangenen November in Berlin wollte so manch einer aus den Pfiffen ein Politikum machen. Das ist natürlich Quatsch.
Beim Gruppenspiel gegen Georgien gab es leider sogar Pfiffe während der gegnerischen Hymne. Das war ein Unding, das auch Georgiens Nationaltrainer Willy Sagnol im Nachgang scharf verurteilte: „Das hat kein gutes Bild von der Türkei hinterlassen.“
Im Fußball geht es um Zusammenhalt, es geht um die Liebe zum Sport. Bei der EM geht es um Völkerverständigung, ein interkulturelles Fest über die Grenzen hinaus. Es geht um Respekt und Fairplay – das müssen viele türkische Fans bei all den tollen Emotionen noch lernen.