Kommentar: Die AfD denkt über EU-Austritt nach – was wären die Folgen?

Alice Weidel bei einer Pressekonferenz in Berlin im August 2021 (Bild: REUTERS/Axel Schmidt)
Alice Weidel bei einer Pressekonferenz in Berlin im August 2021 (Bild: REUTERS/Axel Schmidt)

Co-Parteichefin Alice Weidel preist in einem Interview den Brexit als ein Modell für Deutschland. Damit belebt die AfD eine Debatte, die sie schon früher bemühte. Doch wie sähe unser Land aus, wenn wir die Europäische Union tatsächlich verließen? Eine Spurensuche.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Den Redakteuren der britischen Zeitung „Financial Times“ wird beim Redigieren der Teelöffel aus der Hand gefallen sein, als sie den Text lasen, den man ihnen aus Berlin kabelte. Der Brexit, also der Ausstieg Großbritanniens aus der EU, ein Modell für Deutschland? So viel Masochismus werden sie Alice Weidel von der AfD nicht zugetraut haben – immerhin verstehen die Redakteure etwas von Wirtschaft, und das tut Weidel auch.

Und dennoch hat die Co-Chefin im Interview mit der „FT“ gesagt, ein deutscher EU-Ausstieg sei richtig, sollte sich die EU nicht nach „den Vorstellungen ihrer Partei“ verändern. „Absolut richtig“, sei auch der Austritt Großbritanniens aus der EU gewesen. Ein „Demokratiedefizit“ in der EU solle beseitigt werden. Geschähe dies nicht und gelänge es nicht, „die Souveränität der EU-Mitgliedstaaten wiederherzustellen“, solle es auch in Deutschland ein Referendum über EU-Verbleib geben. Wofür Weidel damit warb.

Die Idee ist nicht neu. Europaskeptisch war die Partei der Rechtspopulisten schon immer – es gehört zum genetischen Code, von einem heiligen Dreiklang zu träumen: Erstens der guten alten Zeit hinterher zu trauern. Zweitens einem Überbau von mehreren Staaten nicht zu trauen. Und drittens einen fernen Bösewicht auszumachen, dem man manches in die Schuhe schieben kann.

Auch gründete sich die AfD im Jahr 2013, weil sie vornehmlich gegen den Euro war. Dann begann der lange Marsch nach rechts, an dessen heutiger Zwischenstation wir von Remigration hören. Und vom „Dexit“, einem Ausstieg aus der EU.

Dass es in der EU Demokratiedefizite gibt, steht außer Frage. Das Parlament sollte mehr Macht gegenüber der Kommission kriegen, und auch der Einfluss einzelner Länder wegen des Veto-Prinzips nervt – siehe Ungarn (auch wenn gerade dies Weidel anders sehen würde). Was aber würde aus Deutschland werden, wenn es die Union verließe?

Das Versprechen der AfD: Mehr Souveränität, mehr Arbeitsplätze für Deutsche, keine Nettoeinzahlungen mehr an die EU, eine starke D-Mark und ein Land, das wegen seiner Stärke und seines eigenen Kurses mehr geachtet wird.

Was ist an dieser Vision dran?

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Infografik: Wie viele Deutsche wollen die AfD wählen? | Statista
Infografik: Wie viele Deutsche wollen die AfD wählen? | Statista

Die Karten wären neu gemischt

Da wären erstmal 4000 Kilometer Grenze zu neun Ländern, die gesichert werden müssten. Für Bürger in Grenznähe würden Annehmlichkeiten wegfallen, das Pendeln erschwert werden. Aber so what? Billig einkaufen im Nachbarsort würde nicht so leicht werden. Aber was wäre für das ganze Land?

Deutschland ist eine Exportnation. Unseren Wohlstand verdienen wir stark durch den Verkauf unserer Güter in andere Länder. Bei einem EU-Austritt geschähe zweierlei: Zum einen würde man Zölle einführen, denn aus dem Binnenmarkt wären wir raus – und die EU ist mit Abstand unser größter Absatzmarkt. Das würde den Preis für deutsche Produkte verteuern. Und zum anderen gäbe es einen „Aufwertungsschock“, wie Ökonomen es nennen: Die D-Mark wäre garantiert eher stark als schwach bewertet. Dies hätte zur Folge, dass Käufer unserer Produkte mit ihren schwächeren Währungen noch mehr berappen müssten. Unsere Exporte würden viel weniger werden. Viele Jobs würden wegfallen.

Aber auch unsere Importe würden teurer werden, denn auf die gäbe es auch Zölle. Wir würden also mehr hessischen Wein trinken und weniger Chianti oder Bordeaux.

Das Blatt hätte weniger Ässe

Der AfD-Traum zeugt von einer gewissen Schlichtheit. Alles würde einfacher werden, übersichtlicher. Und auch die Arbeitssuche wäre hierzulande einfacher, weil eben mehr Jobs übrigbleiben. Nur: Haben wir nicht schon jetzt einen Fachkräftemangel? Die meisten aller nach Deutschland einwandernden Menschen kommen aus der EU. 50 Prozent von ihnen sind Fachkräfte, neun Prozent von ihnen sind Experten. Würde Deutschland auf jegliche Zuwanderung verzichten, würden laut einer Prognose bis 2050 rund 40 Prozent aller Arbeitskräfte fehlen. Holla. Schon jetzt haben wir ein Problem bei Erntehelfern, bei Facharbeitern im Handwerk, im Hotelgewerbe und in der Gastronomie. All dies würde durch einen Austritt dramatisch verschärft werden.

Aber halt, was ist mit den ganzen Einsparungen? Immerhin zahlt Deutschland an die EU mehr, als es an Nettogeldleistungen wieder zurückkriegt. Diese Rechnung übersieht indes ein paar Fakten: Was Deutschland in die EU investiert, fließt auch in Grenzsicherung und in gemeinsame Verteidigung – gerade bei letzterem sind wir ja nicht perfekt aufgestellt. Und viel Geld benutzt die EU auch, um osteuropäische Mitgliedsländer in ihrer Entwicklung zu stärken. Das bedeutet, dass sie zunehmend in der Lage sind, unsere Produkte zu kaufen. Wer sich den deutsch-polnischen Handel ansieht, schaut auf explodierende Zahlen. Deutschland hat eine Menge von der EU.

Der Kater käme bestimmt

Auch die Briten wurden bei der Brexit-Abstimmung damit geködert, die lästigen EU-Zahlungen einsparen zu können. Nicht einmal dies stimmte, diese Lüge mussten die Brexit-Aktivisten gleich nach dem für sie erfolgreichen Referendum einräumen.

Und wie sieht es heute in Großbritannien aus? Die „Wirtschaftswoche“ zitiert eine Studie des Instituts Cambridge Econometrics. Diese kommt zum Schluss, dass der EU-Ausstieg das Land 163 Milliarden Euro im Jahr kostet. „Die Wirtschaftsleistung sei im Vergleich zum Verbleib etwa sechs Prozent niedriger. Britinnen und Briten hätten 2023 im Schnitt pro Kopf etwa 2000 Pfund (2330 Euro) weniger gehabt, die Bewohnerinnen und Bewohner Londons sogar knapp 3400 Pfund (3970 Euro). 1,8 Millionen Arbeitsplätze seien verschwunden“, berichtet die „Wirtschaftswoche“ über die Studie.

Und Großbritannien ist eine Insel. Deutschland würde vom Ausstieg aus dem Binnenmarkt viel stärker beeinflusst werden. Auch haben die Briten über ihre Kolonialerfahrung intensivere Beziehungen in ferner liegende Länder als Deutschland.

Warum redet Alice Weidel also so? Was hat sie mit Deutschland vor? Sie verspricht mehr Ruhe und Übersichtlichkeit. Würden aber ihre Ideen Wirklichkeit, wäre Deutschland chaotischer und ärmer. Viel Stabilität wäre weg. Die AfD hat gut reden, in der Opposition. Aber vielleicht sollte sich mancher Wähler in seiner Proteststimmung fragen, was eine Partei mit seiner Stimme macht, kommt sie an die Macht.

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