Rechtssicherheit in der Türkei? Vergesst es!

Mitglieder von Amnesty International protestieren vor der türkischen Botschaft in Belgien gegen die Verhaftungen (Bild: Reuters)
Mitglieder von Amnesty International protestieren vor der türkischen Botschaft in Belgien gegen die Verhaftungen (Bild: Reuters)

Kurz vor dem Urlaub: Wer über den Bosporus will, sollte besser vorher mit seinem Anwalt sprechen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Stellt euch vor: In einem Land, das vor kurzem noch in die EU aufgenommen werden sollte, werden Menschen unter fadenscheinigsten Motiven verhaftet. Sie sind in dieses Land gekommen, um zu helfen, um Gutes zu bewirken, werden dafür in eine Zelle gesteckt. Dieses Land ist die Türkei.

Führende Menschenrechts-Aktivisten von Amnesty International (ai) sind dort in Haft. Und auch Ausländer nahm man gleich mit Hopps, darunter den Deutschen Peter Steudtner. Sein Vergehen: Er sollte auf einem Workshop von ai über IT-Sicherheit und gewaltlosen Umgang bei Konflikten referieren. Sein offizielles Vergehen, natürlich, lautet die Unterstützung von Terrorismus, was in der Türkei gleichbedeutend ist mit dem Vorwurf des Kirschenkaufs oder Popelns mit dem rechten Finger. Der Terrorvorwurf war schon immer ein Instrument politischer Willkür, in diesen Wochen aber setzt die AKP, die einst in der Türkei durch demokratische Wahlen in die Regierungsverantwortung gesetzt wurde und nun die Republik in ein Präsidialregime zu verbiegen versucht, dieses Instrument des Terrorverdachts inflationär ein.

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Die Verhaftung der Menschenrechtsaktivisten und die Vorwürfe gegen sie sind hanebüchen. Diese Menschen leisten das Gegenteil dessen, was man ihnen zur Last legt. Dass gerade sie in die Zellen müssen, ist ein Skandal, gegen den es nur laut aufschreien lässt. Jemand wie Steudtner, der das gute Auskommen zwischen Menschen zeigt, ist ein Heiliger. Seine Inhaftierung ist so, als würde man Helene Fischer oder Jogi Löw hinter Gitter setzen.

Wen interessiert‘s?

Doch den lauten Aufschrei gibt es nicht. Heute Vormittag musste ich mich mehrmals kneifen. Bei einigen Onlinemedien scrollte ich nach unten und fand einfach keine Meldung zum Fall Steudtner. Seltsam, wie schnell wir uns an schlimme Zustände gewöhnen, aber sie herrschen gottlob ja weit entfernt von uns.

Ist dem so?

Die Türkei gibt in diesen Tagen ihre Rechtssicherheit ab. Jeden kann es ab nun treffen, der seinen Boden auf türkischen Boden setzt. Es ist keine antitürkische Übertreibung zu sagen, dass aus dem Verhalten der türkischen Staatsanwaltschaften der vergangenen Monate nur eines zu schließen ist: Jeder Handel Treibende, Urlaub Suchende oder Verwandte Besuchende muss damit rechnen, in die Fänge des „Systems“ zu geraten; weil ein Cousin vor Jahren ein Gülen-Buch zu Geburtstag bekam, weil man im kurdischen Grenzgebiet deutsche Panzer fotografierte oder schlechte Witze über Erdogan riss. In der Türkei ist Schluss mit lustig. Mir scheint, das Erdogan-Regime will seine Macht zeigen, jeden Tag aufs Neue. Und die Machtdemonstration ist ihm wichtiger als jeder Inhalt.

Kommentar: Der Putschversuch in der Türkei interessierte uns nicht wirklich

Die Diplomatie der Bundesregierung ist angesichts dieses Muskelspiels gescheitert. Nun muss, bei aller Freundschaft, die kalte Schulter her. Erdogan braucht zwar sein lautes Gebell, und wer zurückbellt, erhält eine umso lautere Antwort; aber ins Leere gelaufen ist Erdogan durch Missachtung auch nicht. Nun müssen ihm Grenzen gesetzt werden. Die türkische Wirtschaft muss sich klarmachen, wie stark sie unter der AKP-Politik leiden wird, wie der Tourismus komplett einbrechen, wie Handel schwieriger wird. Freiheit ist ein hohes Gut, nicht nur für Journalisten wie Deniz Yücel und Menschenrechtsaktivisten wie Peter Steudtner – ihren Verlust werden alle spüren. Und die Bundesregierung muss nun bellen.

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