Schlaflos, panisch, arbeitsunfähig: Ein Veteran spricht über sein Leben nach zahlreichen Auslandseinsätzen

Die Bundeswehr ist seit 1999 am KFOR-Einsatz beteiligt (Bild: ddp images)
Die Bundeswehr ist seit 1999 am KFOR-Einsatz beteiligt (Bild: ddp images)

Gerade erst hat die Bundesregierung sechs Auslandseinsätze der Bundeswehr verlängert. Insgesamt werden dann 3.600 Soldaten an internationalen Einsätzen beteiligt sein, und nicht alle werden unversehrt zurückkommen. Ein Oberstabsfeldwebel erzählt Yahoo Nachrichten, welche Ereignisse bei ihm eine Posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst haben und wie sich dadurch sein Leben komplett verändert hat.

Wann ein Flashback kommt, kann Rüdiger Hesse nicht voraussagen. Wohl aber, wie er darauf reagiert: Mit Herzrasen, unkontrolliertem Zittern, Schweißausbrüchen und einer Angst, die den 50-jährigen Oberstabsfeldwebel glauben lässt, er würde jetzt sofort an Ort und Stelle sterben. Das letzte Mal, als er das erlebte, war er auf seiner Gassi-Runde dem örtlichen Jäger begegnet. Eigentlich kein Ding, das tut er fast täglich. An diesem Tag aber hatte der Jäger ein anderes Gewehr samt Zielfernrohr und Schalldämpfer dabei: „Das hat mich angetriggert und ich war im Bruchteil von Sekunden irgendwo im Balkangebirge unterwegs“, so Hesse zu Yahoo Nachrichten.

„Jede Bewegung könnte deine letzte sein“

Der Veteran kennt den Balkan, seit er 1999 zu seinem ersten KFOR-Einsatz ausgerückt ist. Als Infanterie-Zugführer hatte er 30 Soldaten unter sich, nicht nur ein Mal fanden sie sich auf einem Marsch in einem Minenfeld wieder. „Du weißt, jeder Schritt, jede Bewegung die du machst, könnte deine letzte sein. Reagierst du falsch, war es das“, sagt Hesse.

Der längste Auslandseinsatz der Bundeswehr: Sie ist als Teil der NATO-geführten KFOR seit 1999 im Kosovo im Einsatz. (Bild: Getty Images)
Der längste Auslandseinsatz der Bundeswehr: Sie ist als Teil der NATO-geführten KFOR seit 1999 im Kosovo im Einsatz. (Bild: Getty Images)

In solchen Momenten versuche man nur, sich selbst und die anderen so heraus zu manövrieren, dass keiner zu Schaden kommt. Geklappt hat das nicht immer. Zwei Mal musste Hesse mit ansehen, wie ihm anvertraute Soldaten von Minen zerrissen wurden. Und er sagt: „Als militärischer Führer fühlt man sich nicht nur verantwortlich, man ist es.“

Traumatische Ereignisse hinterlassen Spuren

Möglich, dass es diese Ereignisse waren, die schon damals eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei ihm ausgelöst haben. Vielleicht war es aber auch der Anblick der Kinder, die mit Handgranaten gespielt und sich dabei die Hände weggesprengt hatten. „Bei mir kann man es nicht an einem bestimmten Ereignis festmachen. Die Ursache liegt an der Vielzahl der hohen Stressereignisse, denen ich im Lauf der Jahre ausgesetzt war“, weiß Hesse heute.

Die türkisch-kurdische Tragödie: Als Frieden möglich schien

Nach KFOR kam ISAF. Kundus, Kabul, Masar-e Scharif – der Oberstabsfeldwebel war überall. Nach jedem seiner Einsätze, die in der Regel ein halbes Jahr dauern, füllte er einen Fragebogen aus, mit dem Truppenärzte Posttraumatische Belastungsstörungen erkennen können. Hesse weiß, ab welcher Punktzahl es kritisch wird: Ab 23 spricht man von einer erhöhten Stressreagibilität. Und er ist, aus damaliger Sicht, schlau genug, seinen Wert stets unterhalb dieser Grenze anzugeben. Denn dass er weiter im Dienst bleiben und auch an Auslandseinsätzen teilnehmen will, steht für ihn trotz seines Zustands außer Frage.

Saufen, bis endlich Ruhe ist

Er ist ruhelos, kann nicht schlafen, hat keine Lust, sich mit Freunden zu treffen – und sucht Rat bei „Dr. B.“, wie er sagt. „Eine Flasche Bacardi pro Abend war kein Thema. Dass man mit dem Saufen anfängt, ist ja der Klassiker.“ Drei, vier Jahre ging das so, bis er sich an einem Abend „fast tot gesoffen“ habe. Den Absprung vom Alkohol hat er danach geschafft. Aber die Probleme, die ihn in die Sucht getrieben hatten, waren immer noch da.

Syrien: Dramatische humanitäre Lage in Afrin und Ost-Ghuta

Die rettende Kurve hat der Oberfeldwebel erst Jahre später nach seinem letzten Auslandseinsatz 2014 in Afghanistan gekriegt. Auch damals drückte ihm die Truppenärztin den obligatorischen Test in die Hand, doch dieses Mal war etwas anders: „Ich habe mich entschlossen, den realen Wert anzugeben, was zu sehr großen Augen bei der Truppenärztin führte.“ Eine Kur wollte der Veteran damals machen und dachte, danach wäre alles wieder im Lot. Und fiel aus allen Wolken, als die Ärztin ihn in eine Klinik einweisen wollte. Hesse weigerte sich zunächst, doch dann habe er die „härtesten Worte seiner Dienstzeit“ ausgesprochen: “Ich brauche Hilfe!”

Viele begegnen psychisch Kranken völlig ahnungslos

Ein schwerer Schritt in Zeiten, in denen psychische Erkrankungen noch immer ein Tabu sind. Laut dem Deutschland Barometer 2017 denken 19 Prozent der Menschen, Depressive müssten sich einfach zusammenreißen. Fast ebenso viele sind der Meinung, der Krankheit lasse sich mit Schokolade beikommen. „Bis zu der Erkrankung war ich derjenige, der Hilfe gewährt hat“, sagt Hesse. „Und auf einmal bin ich selbst einer, der Hilfe braucht. Wenn man dann auf Unwissenheit oder Unverständnis reagieren muss, ist das ein Doppelschlag ins Gesicht.“

Wehrbeauftragter: Bundeswehr sollte mehr Reparaturen selbst übernehmen

Mittlerweile steht der 50-Jährige vor seinem dritten Aufenthalt in einer Klinik und befindet sich zudem in ambulanter Therapie. Er arbeitet stundenweise in einer Schule für strategische Aufklärung in Flensburg, wobei arbeiten in seinem Fall ein ziemlich euphemistischer Begriff ist: „Sagen wir mal ich kriege eine Anwesenheitsprämie“, sagt er sarkastisch. „Ich helfe mal diesem und mal jenem Kameraden, aber eine tief schürfende Aufgabe braucht man mir nicht geben.“ Wenn es gut läuft, kann er sich pro Tag eine halbe Stunde konzentrieren, mehr ist nicht drin. Als sinnlos empfindet er seine Arbeit trotzdem nicht, denn: „Sie ist so eine Art Tageskorsett, das mir dabei hilft, nicht zu verwahrlosen.“ Aufstehen, duschen, Zähne putzen, sich rasieren, das Haus verlassen und irgendwohin fahren – für Menschen mit einer PTBS ist das keine Selbstverständlichkeit. Und Hesse weiß: „Viele Kameraden verwahrlosen bis zur Obdachlosigkeit.“

Soldaten in Afghanistan haben Kerzen angezündet, um gefallenen Kameraden zu gedenken. Laut Bundeswehr sind seit Einsatzbeginn 57 deutsche Soldaten zu Tode gekommen. (Bild: Getty Images)
Soldaten in Afghanistan haben Kerzen angezündet, um gefallenen Kameraden zu gedenken. Laut Bundeswehr sind seit Einsatzbeginn 57 deutsche Soldaten zu Tode gekommen. (Bild: Getty Images)

Offiziell ist Rüdiger Hesse noch immer aktiver Soldat. „Damit habe ich das Premium-rundum-glücklich-Paket“, sagt er. Er bekommt nach wie vor sein normales Gehalt und unterliegt der freien Heilfürsorge, finanziell hat er also keine Probleme. Seitdem sein Wehrdienstbeschädigungsantrag im vergangenen Jahr nach zweijährigem Rechtsstreit anerkannt wurde, die PTBS also nachweislich mit seinen Auslandseinsätzen zusammenhängt, hat er eine große Sorge von der Backe, die andere Soldaten tatsächlich in den Abgrund treiben kann. „Es gibt Kameraden, die seit zehn Jahren um die Anerkennung ihrer Wehrdienstbeschädigung kämpfen.“

Entlassene Zeitsoldaten stehen oft vor dem Nichts

Besonders dramatisch kann es für Zeitsoldaten werden, die längst aus dem Bundeswehrdienst ausgeschieden sind, wenn die PTBS sich auch bei ihnen zeigt. Keine Seltenheit bei einer Krankheit, die sich bei den Betroffenen oft erst fünf bis zehn Jahre nach einem oder mehreren traumatischen Erfahrungen bemerkbar macht. „So jemand muss erst einmal die richtigen Rückschlüsse ziehen wenn er sich fragt, warum fange ich auf einmal an zu saufen oder meine Frau zu schlagen? Er muss sich eingestehen, dass er Hilfe braucht, und im Normalfall Monate lang auf einen Termin im Bundeswehrkrankenhaus warten.“ Nur dort dürfen Ärzte eine PTBS diagnostizieren, aus der sich dann rechtliche Schritte ableiten lassen. Wer dann mehrere Jahre darum kämpfen muss, eine Wehrdienstbeschädigung anerkannt zu bekommen, rutscht schnell in Hartz IV ab oder endet auf der Straße.

“Ich kann seit Jahren nicht schlafen”

Obwohl Rüdiger Hesse dank psychologischer Betreuung inzwischen gelernt hat, mit seinen Panikattacken umzugehen, prägt die Krankheit sein Leben: „Ich kann seit Jahren nicht schlafen. Wenn es gut geht, schaffe ich es mit Medikamenten auf zwei bis drei Stunden pro Nacht. Über Jahre kann man sich vorstellen, wie Körper und Geist darauf reagieren.“ Seine Konzentrationsspanne ist so gering, dass er keinen Faden mehr einfädeln kann, „ich habe einfach die Ruhe nicht“. Das Lesen von Zeitschriften hat der Oberstabsfeldwebel mittlerweile aufgegeben: „Am Ende der Seite weiß ich nicht mehr, was am Anfang stand.“

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Wer ihn erreichen will, muss das möglichst bis zum Mittwoch einer Woche versuchen, denn: „Ab Donnerstag mache ich keine Briefe mehr auf und gehe nur noch selten ans Telefon. Könnten ja schlechte Nachrichten sein.“ Fresssucht ist ein weiteres Ventil, die sich die Krankheit bei ihm gesucht hat. „Ich könnte den ganzen Tag ein Nutella-Glas nach dem anderen leeren.“ Und noch eine Sache ist in letzter Zeit dazu gekommen, die seinem Wesen eigentlich überhaupt nicht entspreche: „Mittlerweile habe ich zwei oder drei Mal meine Frau angeschrien. Früher war ich nie aggressiv.“

Bundeswehr: Es gibt nur 605 Soldaten mit PTBS

Laut dem Wehrbeauftragten der Bundeswehr gab es im vergangenen Jahr nur 605 Soldatinnen und Soldaten, die unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Berücksichtigt wurden allerdings nur Fälle, die aktuell in Bundeswehreinrichtungen behandelt werden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Hesse schätzt, dass in Wahrheit zehn bis 20 Prozent aller Soldaten mit Auslandseinsätzen auf dem Buckel betroffen sind.

Um jenen Gehör zu verschaffen, gibt es Vereine wie den Bund deutscher Einsatzveteranen oder den Combat Veteranen e.V., in dessen Vorstand Hesse ist. Sie seien aus der Not heraus gegründete Selbsthilfegruppen, erklärt der Oberstabsfeldwebel. Und sie haben konkrete Forderungen an die Politik. Die zentralste darunter: „Man muss als erstes den Begriff Veteran definieren.“ Anders als in anderen Ländern gibt es in Deutschland tatsächlich keine Definition dieses Wortes, und selbst innerhalb der Bundeswehr ist umstritten, wer als Veteran gelten sollte und wer nicht.

Von der Leyen: Ausstattungsmängel betreffen nicht Auslandseinsätze

Die Combat Veteranen haben der Politik einen Vorschlag gemacht: „Jeder Soldat, der in einem Auslandseinsatz gedient hat, ist als Veteran anzusehen.“ Erst, wenn genau geregelt sei, wer als Veteran gilt, lasse sich die Situation der Veteranen verbessern. Indem man endlich offizielle Daten erheben könnte, wie viele ehemalige Einsatzkräfte zum Beispiel obdachlos sind, im Gefängnis sitzen, sich scheiden lassen oder Suizid begehen. „Das will ja gar niemand wirklich wissen“, meint Hesse. „Wenn die Zahlen nicht erhoben werden, hat man auch kein Problem.“ Darum ist ein ähnlich dem Wehrbeauftragten neu zu installierender Veteranenbeauftragter eine weitere Forderung der Combat Veteranen. Und, ebenfalls ein zentrales Anliegen: Eine Beweislastumkehr bei Wehrdienstbeschädigungen. Wenn dann ein Soldat aus dem Einsatz zurückkommt, einen Antrag einreicht und es Jahre bis zu einer Entscheidung dauert, soll er in dieser Zeit seine normalen Bezüge bekommen. „Dann wären die abgesichert.“ Denn kein Soldat könne etwas dafür, dass nur 16 Sachbearbeiter über etwa 16.000 Anträge entscheiden müssen. „Das sind jedenfalls meine letzten Zahlen.“

Das Ziel ist gesellschaftliche Anerkennung

Bei aller praktischen Notwendigkeit bestimmter Änderungen geht es Hesse wie vielen Kameraden vor allem um eines: „Die Gesellschaft muss anerkennen, dass es mittlerweile mehrere hunderttausend ehemalige Einsatzsoldaten gibt.“ Menschen mit besonderen Erfahrungen, die man erst wieder in die Gesellschaft integrieren muss. Ein Veteranentag wäre schön, meint Hesse, der in schwachen Momenten in die USA schielt, wo es einen wahren Kult um Veteranen gibt. Im Gegensatz dazu, findet er, stoße man hierzulande im besten Fall auf höfliches Desinteresse. „Wir haben unsere Haut zu Markte getragen, manche haben sogar ihr Leben gelassen, andere ihre Gesundheit geopfert. Das haben wir ja nicht für uns selbst gemacht, sondern für die Gesellschaft und für unseren Wohlstand“, sagt der 50-Jährige. „Wir wollen, dass unsere Erfahrungen wertgeschätzt und genutzt werden. Wir wollen in der Gesellschaft anerkannt und wahrgenommen werden. Und wir wollen eine öffentliche Diskussion über den Einsatz von Streitkräften.“

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