Warum wir einen radikalen Schnitt beim Bleiberecht brauchen

Demonstration gegen die Abschiebung eines afghanischen Berufsschülers aus Nürnberg (Bild: dpa)
Demonstration gegen die Abschiebung eines afghanischen Berufsschülers aus Nürnberg (Bild: dpa)

Wer lange in Deutschland lebt, sollte nicht abgeschoben werden. Sonst messen wir Menschen mit zweierlei Maß.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Abschiebungen sind keine feine Sache. Wer sie angeht, steht rasch als Bösewicht da. Dass es sie gibt, ist aber normal – denn immer gibt es zwei Seiten einer Medaille; wo ein Staat die Freiheit der Aufnahme regelt, muss er auch dieser Grenzen setzen. Gesetze bedingen ein Maß an Grausamkeit, das lässt sich nicht ändern. Umso wichtiger ist, bei ihnen gleiche Augenhöhe und Menschlichkeit als Maßstäbe nicht zu verlieren. Aber genau das droht uns seit langem.

Nur die Jungs von der AfD haben vielleicht damit überhaupt kein Problem, sie sammeln ja höhnisch Teddybären, wenn sich im Frühling mehr Schiffe mit Fliehenden übers Mittelmeer wagen. Oder sie tönen, wie feige die jungen syrischen Männer seien, schließlich ließen sie ihr Land zurück und verteidigten es nicht. Die Vorstellung, dass diese Bengel mit einer Forke oder einer Kalaschnikow in der Hand ihre Heimat Brandenburg oder NRW verteidigen, ist zum Lachen und Weinen zugleich.

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Beschäftigen wir uns also einmal nicht mit jenen, die eh mangels Mitgefühl kaum Substanzielles beitragen könnten. Vielmehr sollten wir uns endlich an die Frage ehrlich heranwagen, wo, wann und wie abgeschoben werden sollte.

Auch Hypnose hilft nicht weiter

Im Zuge der Grenzöffnung im Herbst 2015 waren ziemlich viele verrückt nach Abschiebungen. Wenn wir schon so viele hereinlassen, so der Reflex, müssen wir aber mit harter Hand jene aussortieren, die ihr Bleiberecht verwirkt haben. Plötzlich rauschten Gesetze durch den Bundestag, über die vorher jahrelang gestritten worden war. Es war eine Angstreaktion vor der Wut jener, welche sich die Grenzen eh geschlossen wünschten. Man könnte auch sagen: eine Mischung aus Beschwichtigungsmanöver und kaltem Zynismus.

Jetzt, wo wir uns langsam an die Situation gewöhnen und alles doch nicht so schrecklich geworden ist, wie man es uns einzureden versuchte, kommt die Debatte über Abschiebungen wieder hoch. Sie lässt sich nicht wegdenken, dazu sind ihre Dimensionen allzu menschlich.

Denn wir brauchen einen radikalen Schnitt. Über Jahrzehnte ist es Praxis geworden, Menschen ein Zuhause zu geben, für lange Zeit. Diese Menschen integrieren sich, bauen sich eine Zukunft auf. Sie jetzt aus diesen Lebensumständen herauszureißen ist unmenschlich und in den meisten Fällen auch ökonomisch gesehen unvernünftig. Wir brauchen eine großzügige Heimatperspektive für alle jene, die seit langem in Deutschland leben.

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Was Abschiebungen bedeuten, möchte ich durch ein Beispiel illustrieren. Ich kenne jemanden, der kam im Alter von fünf Jahren als Waise nach Deutschland, wuchs in Heimen auf. Natürlich fühlte er sich deutsch, der Staat wurde sein Vater. Leider geriet er auf die schiefe Bahn, wurde kriminell. Nach seiner verdienten Gefängnisstrafe kam er dann nicht frei, eben auf die zweite Chance, sondern man schob ihn ab in das so genannte Herkunftsland – wo er keine Familie hatte, keine Freunde, nichts und niemanden kannte, auch die Sprache nicht sprach; dort steckte man ihn, aus Überforderung mit der Situation, erstmal ins Gefängnis.

Aus Ignoranz entsteht Unrecht

Das ist Jahre her. Nun schlägt er sich durch. Aber der Kaltstart, den man ihm abnötigte, war ungerecht. In meinen Augen ist er Deutscher durch und durch. Nur hatten die Behörden aus purer Ignoranz über viele Jahre hinweg es versäumt, ihm den nötigen Pass auszustellen – und nutzten ihr eigenes Versagen, um ihn loszuwerden.

Es gibt viele solcher Fälle, seit Jahrzehnten.

Wir können Menschen, die Deutschland als Heimat erfahren haben, nicht anders beurteilen als uns selbst. So steht es in der Bibel und gehört also zu den Werten unseres Abendlandes. Das heißt auch, dass bei neu ins Land Gekommenen viel schneller entschieden werden muss, ob sie bleiben können oder nicht.

Der deutsche Amtsschimmel hat diese Entscheidungen gescheut. Nun müssen sie her. Wir brauchen den großen Handschlag.

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