Wir leben im Zeitalter der Lüge

Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Für die linke Zeitung
Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Für die linke Zeitung “Junge Welt” liegt die Antwort auf der Hand. (Bild: Jan Woitas/dpa)

Meldungen, die Kopfschmerzen bereiten. TV-Auftritte zum Heulen. Für 2017 müssen wir uns warm anziehen. Die Lügen stehen vor der Tür.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Manchmal frage ich mich, ob früher doch alles besser war. Es ist ja einfach dahingesagt, von Nostalgikern – aber war der morgendliche Blick auf die Schlagzeilen vor zehn Jahren ähnlich erschütternd?

In Ungarn wird ein Syrer zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt – wegen „Terrorismus“. Der äußerte sich darin, dass der Mann an der Grenze Steine auf Polizisten geworfen und durch ein Megaphon gebrüllt hatte, um eine Grenzöffnung zu erreichen.

In eine TV-Polittalkshow wird eine Frau eingeladen, die kaum hinterfragt über die “Lügenpresse” redete und selbst nicht bei der Wahrheit blieb.

Lesen Sie auch: Was deutsche Politiker vom trumpschen Populismus lernen

In Stuttgart postet ein FDP-Stadtrat das Foto eines betenden Muslims mit dem Kommentar “Kick him”.

In Berlin behauptet ein Mädchen, der Fahrer einer Tram habe sie herausgeworfen, weil sie Kopftuch trägt; dabei war es der Döner, der störte.

Und in Wien und Washington D.C. zeigen die Rechtspopulisten, was sie vor und nach einer Wahl machen: Zuerst lügen sie, und dann holen sie ihre Lügen wieder ab und stecken sie ins Handgepäck.

Raus aus dem Schützengraben

Nein – vor zehn Jahren wird es nicht besser ausgesehen haben, das bezeugen die Journalisten mit nicht allzu heller Haut, die damals nicht weniger Hassbriefe kriegten. Aber eine neue und beunruhigende Tendenz kann ich nicht leugnen: Die Gäule drehen heute leichter durch, das Temperament Vieler lässt sich schlechter zügeln, Aussagen werden mit Informationen verwechselt und jeder weiß schneller Bescheid als sein Nachbar auf dem Klo. Wir erleben gerade in vielen Ländern, auch in Deutschland, eine Spaltung der Gesellschaft – da stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber und überlegen bei jeder Meldung, die ihnen auf dem Bildschirm entgegen flattert, wie sie sie für ihre Zwecke nutzen können; dass Informationen oder das, was man so dafür hält, dadurch instrumentalisiert werden, ist eingespeist. Das schlechte Gewissen hat in den vergangenen Jahren sicherlich abgenommen.

Zum verurteilten Syrer: Mit “Terrorismus” und der Angst davor kann man toll ärgern. Natürlich war das kein Terror – sondern nur die Instrumentalisierung dessen, denn mit den Flüchtlingen, denen da drüben, die nicht zu uns gehören, mit denen kann man es ja machen. Sollte ein Urteil tatsächlich ausgewogen sein: Was sollte dann jene ungarische Kamerafrau an Strafe erhalten, die einem rennenden Vater, mit einem Kind in den Armen, ein Bein stellte? War das auch Terror?

Zur Talkshow: In Zeiten intensiver politischer Debatten darüber, wie unsere Gesellschaft aussehen soll, wären Polit-Talksendungen im Fernsehen wichtig. Sie könnten zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen. Tun sie aber nicht. Niveau und Qualität sind schon längst an der Garderobe abgegeben. Jüngstes Beispiel lieferte “Maischberger”, wo eine Zeugin über die “Lügenpresse” aussagen sollte und diese Rolle der armen Vera Lengsfeld zugewiesen wurde. Die redete sich um Kopf und Kragen und dekorierte ihre Vorwürfe über angebliche Lügen der Presse mit Unwahrem. Gleich drei solcher Beispiele nannte sie, um zum Beispiel den “Stern” zu entlarven. Dabei entlarvte sie sich selbst als Lautsprecherin von, diplomatisch ausgedrückt, Nichtfaktischem – und die Redaktion ließ wertvolle Minuten verstreichen und hinterfragte den Sermon ihrer Gästin nicht.

Lesen Sie auch:  So verbrannte Barth am Populismus seine Finger – eine Analyse

Zu Stuttgart: Der FDP-Stadtrat Michael Conz scheint ein Zeitgenosse mit hohem Mitteilungsdrang zu sein. Er postet viel und noch mehr. Bei einem Foto meinte er wohl, dem Zeitgeist zu huldigen – er verschickte die Aufnahme eines betenden Muslims, auf einem Teppich in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Tja, drauftreten, nicht wahr, Herr Conz? Dass der Herr eine interessante Vorstellung von Liberalität hat, bewies sein Rechtfertigungsversuch: “Wenn Religion dazu missbraucht wird, um unsere liberale Gesellschaft zu bekämpfen, ist es unsere Pflicht, diese radikale Religionsausübung zu bekämpfen.” Nun, in Stuttgart haben Muslime eigentlich genug Zeit, vor dem Betreten der Bahnen und Busse zu beten; so langsam ist der öffentliche Nahverkehr in der Autostadt getaktet. Aber wie ein bloßes Gebetsfoto als dargestellter Kampf gegen die liberale Gesellschaft angesehen werden kann, sagt mit größtmöglichem Wohlwollen aus, dass der Herr Conz ein kreativer Geist mit ungeheurer Phantasie ist.

Dass Postfaktisches kein Privileg der Rechten ist, erzählt uns eine Meldung aus Berlin. Da berichtete eine 14-Jährige, sie sei per Lautsprecher vom Fahrer einer Tram hinaus geworfen worden, weil sie ein Kopftuch trägt. Anzeige wurde erstattet, die Sozialen Medien tobten ob dieser rassistischen Entgleisung, das Dritte Reich schien bereits ausgerufen – da stellte sich heraus, dass es der Döner war. Den hatte das Mädchen in der Tram gegessen, und den sollte sie, gemäß der Vorschriften, dort nicht essen.

Ab kommendem Sonntag könnte Norbert Hofer der mächtigste Mann Österreichs sein. (AP Photo/Ronald Zak)
Ab kommendem Sonntag könnte Norbert Hofer der mächtigste Mann Österreichs sein. (AP Photo/Ronald Zak)

Wie im Straßenverkehr: Erst schauen, dann fahren

Es sind schon verrückte Zeiten. Da hilft nur nach dem ersten Blick ein zweiter. Zu schnell sind wir mit einer Meinung am Startblock. Wir sollten mehr die klassischen W-Fragen berücksichtigen: Wer, was, wann, wie, warum. Und was ist die Quelle dieser Nachricht? Wir alle sollten abrüsten.

Das längere Hinschauen könnte vor Fehlern schützen, besonders beim Urnengang. In Sonntag wird in Österreich ein neuer Bundespräsident gewählt, und der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ, Norbert Hofer, scheute sich nicht, in einem TV-Duell seinen Kontrahenten zu verunglimpfen. Alexander van der Bellen sei ein “Spion” gewesen, unkte er. Nun wissen wir nicht, ob der einer gewesen ist, wir wüssten auch nicht, warum wir das annehmen sollten; als Beleg nannte Hofer nämlich ein Buch, in dem lediglich stand, das van der Bellen als Uni-Professor eine Studie in Auftrag gegeben habe, die vom unabhängigen Siri-Friedensforschungsinstitut in Schweden realisiert worden sei, und da habe es Spione gegeben, vermutlich. Irgendwie. Daraus einen Spionagevorwurf zu konstruieren, ist abenteuerlich. Ein Schuft, der dabei böses denkt.

Die Wähler sollten also wissen, was man mit ihren Stimmen macht. Bestens zu begutachten ist das in diesen Tagen in Washington D.C.: Da stellt Wahlsieger Donald Trump seine Regierungsmannschaft zusammen – und die besteht aus genau jenen Leuten, die für seine Wähler der Inbegriff des Grauens sind: Banker und Spekulanten, Millionäre und Milliardäre, das so genannte “Establishment”, das so viele von Trumps Wähler sehen und vor allem bekämpft sehen wollen. Nun zeigt ihnen Trump die lange Nase. Schauen wir also länger hin, bevor wir bellen.

Sehen Sie auch: Das waren die Highlights der letzten Fernsehdebatte vor der Wahl in Österreich