ZDF-Doku über Missbrauch von Werkverträgen: Sigmar Gabriel wusste um die Zustände bei Tönnies

Seit Jahren waren die Missstände beim Schlachter Tönnies bekannt, seit Jahren scheitern Gesetzesvorhaben, den Missbrauch von Werkverträgen zu unterbinden. Eine "ZDFzoom"-Doku suchte am Mittwochabend nach Erklärungen. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel kommt im Film nicht gut weg.

Der Fleischverarbeiter Tönnies darf wieder schlachten. Am Hauptsitz des Unternehmens im nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück hob die Stadtverwaltung den Produktionsstopp auf, der verhängt worden war, nachdem Mitte Juni bei rund 1.400 Beschäftigten eine Infektion mit dem Coronavirus nachgewiesen wurde. Die Meldung entbehrt nicht einer gewissen Ironie - an einem Abend, an dem im ZDF noch mal die große Doku-Keule auf die eklatanten Missstände beim Schlacht-Giganten niedersauste. Corona, so die Lesart des "ZDFzoom"-Beitrags "Tönnies und die Werkverträge", war nur das Brennglas für seit Jahren bekannte Skandalzustände. Es hat offenbar eine Pandemie gebraucht, um politische Entschlusskraft freizusetzen, sie endlich anzugehen.

Es sind Bilder von osteuropäischen Arbeitern hinter Zäunen, bewacht von der Polizei, die sich eingebrannt haben in diesem Krisen-Sommer. Und auch TV-Interviews wie dieses: Alberto Mihau Gogu, bis vor Kurzem Werkvertragsarbeiter bei Tönnies, wurde vom ZDF-Kamerateam in der rumänischen Heimat besucht, in die er sich geflüchtet hatte. Als die Ersten krank wurden, sagt er, habe er deutlich länger arbeiten müssen, täglich bis zu zwölf Stunden am Fließband. Dann habe er sich selbst immer schlechter gefühlt. "Ich habe der Chefin gesagt, mir geht es nicht gut, ich muss zum Arzt. Da hat sie gesagt: Du gehst nirgendwo hin." So sehen soziale Kollateralschäden für abgepackte Billigwurst im Discounterregal aus.

Sigmar Gabriels dunkler Lobby-Fleck

Alleine: Neu sind die Erkenntnisse nicht. Seit sieben Jahren kritisiert Inge Bultschnieder von der Interessengemeinschaft WerkFAIRträge die erbärmlichen Wohnverhältnisse der Werkarbeiter bei Tönnies. 2015 wähnte sie sich ihrem Ziel schon mal ganz nah. Der damalige Wirtschaftsminister und Vizekanzler war bei ihr zu Gast. Als Sigmar Gabriel zur Tür raus war, so erinnert sie sich, sei sie in Jubel ausgebrochen. "Wir waren so sicher, dass sich jetzt was bewegen würde." Es bewegte sich: nichts. Obwohl Gabriel um die Zustände wusste, ließ er sich von Kameras und dem Firmenpatriarchen flankiert durchs Tönnies-Werk führen und schrieb auf Facebook: "Und es ist gut, dass Tönnies in einer Branche, die immer auch mit schwarzen Schafen zu kämpfen hat, im positiven Sinne Standards setzt." Unlängst wurde bekannt, dass Sigmar Gabriel für Tönnies als Berater tätig war - für 10.000 Euro im Monat.

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Die Summe wirkt geradezu obszön, wenn man zugrunde legt, wie viel die aus Ostdeutschland angeheuerten Beschäftigten verdienen, die für den bestens vernetzten Unternehmer und Fußballmäzen das Schlachten, Zerlegen und Verpacken erledigen. Formal ist es der Mindestlohn, rechnet Volker Brüggenjürgen, Caritas-Vorstand in Gütersloh, im Film vor. "Aber dann habe ich Abzüge für Betten oder Schlafplätze von 150 oder 300 Euro. Oder für Putzmittel oder Schuhpauschalen. Oder man erhöht die Miete, wenn die Leute krank sind. Dann bleibt vom Mindestlohn nicht viel über." Der Caritas-Mann klingt bitter: "Clemens Tönnies ist der Profiteur. Das Armutsgefälle ist absolut professionell ausgenutzt worden." Er warnt: "Dieses Geschäftsmodell führt dazu, dass immer mehr bildungsferne, ärmere Menschen in die Region kommen, und das schafft dann irgendwann die aufnehmende Gesellschaft nicht mehr. Es gefährdet absolut den sozialen Zusammenhalt."

Wie konnte es nur so weit kommen?

Oder anders gefragt: Wann hat das alles angefangen? Letzteres ist tatsächlich leicht zu beziffern. Flexibilisierung war ein Kernstück der Agenda 2010 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die Hartz-Gesetze hätten nicht nur der Deregulierung, sondern auch dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet, klagt Professor Stefan Sell von der Hochschule Koblenz. Eigentlich sei Leiharbeit gedacht gewesen, saisonbedingte Arbeitsspitzen auszugleichen. "Das Problem in vielen Branchen ist aber, dass mittlerweile das Basisgeschäft von Werkvertragsunternehmen dauerhaft erledigt wird. Sie kaufen Menschen über ein Werkvertragsunternehmen ein, wie Sie Schrauben einkaufen." Dass das Ganze als "Sachkosten" abgebucht werde, sei da nur konsequent.

Die deutsche Wirtschaft im Unterbietungswettbewerb

Knapp 20 Gesetzesinitiativen, die in den letzten Jahren prekäre Arbeitsverhältnisse verhindern sollten, zählen die Filmemacher Oliver Koytek, Jochen Schulze und Anja Marx auf - alle wurden abgelehnt oder vertagt. Hubertus Heil, der Bundesarbeitsminister, der aufräumen will, bekennt vor der Kamera auf Nachfrage: "Wir müssen feststellen, dass in solchen Verfahren immer Lobbyisten Gesetze abgeschliffen haben." Nun will er Leiharbeit und Werkverträge in der Fleischindustrie verbieten. Dabei wuchert "atypische Beschäftigung" auch in anderen Bereichen wie Bau und Logistik. Auch hier wird massiv darauf gesetzt, "die eigenen Mitarbeiter durch Werkverträge zu verdrängen", wie es ein Gewerkschafter im Film beschreibt.

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Die Folge: das Erodieren der Mittelschicht, aber auch verminderte Wettbewerbsfähigkeit. "Es kann nicht Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik sein, sich an einem Unterbietungswettbewerb in Europa zu beteiligen", warnt Professor Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Rund 7,7 Millionen Arbeitnehmer haben in Deutschland derzeit einen Niedriglohnjob. Das sind laut Fratzscher "extrem viele im internationalen Vergleich".

Dann also der Blick ins Ausland, nach Skandinavien: Wie viele Werkarbeiter wohl in der dänischen Fleischindustrie beschäftigt sind? Keine. Dazu verdienen die Angestellten rund das Dreifache der in Deutschland beschäftigten Kollegen. Und die Dänen, oh Wunder, werden trotzdem satt. Selbst Tönnies zahlt in seinen Niederlassungen in Dänemark nach Tarif. Es geht also. Nur mit ein bisschen weniger Profit.

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