Zeit für ein neues Demokratieverständnis Marke Europa

Donald Trump am Wahlabend (Bild: AP Photo/Evan Vucci)
Donald Trump am Wahlabend (Bild: AP Photo/Evan Vucci)


Nach Donald Trumps Wahl zum neuen US-Präsidenten ist der Schock groß. Die europäische Öffentlichkeit kann den Ausgang kaum fassen und fürchtet sich vor der Zukunft. Dabei kann und sollte man Trumps Wahlsieg als Chance sehen. Es hängt davon ab, wie Europa mit der neuen Realität umgeht – und welche Schlüsse der Kontinent aus dem Wahlabend zieht.

Ein Kommentar von Johannes Kallenbach

Wie schockiert selbst Angela Merkel nach dem sensationellen Wahlerfolg Donald Trumps ist, zeigt sich am besten daran, was sie in ihrem ersten kurzen Begrüßungsstatement nicht sagt. Sie spricht zwar über eine „enge Zusammenarbeit“ und „gemeinsame Werte“, aber eben auch davon, dass ein US-Präsident Verantwortung übernehmen müsse und ebenjene gemeinsamen Werte auch leben müsse, um die Kooperation mit dem wichtigsten Partner Kontinentaleuropas aufrechterhalten zu können.

Trump alleine wird die westliche Demokratie nicht zerstören können

So klingt niemand, der von seinem neuen Gegenüber auf der anderen Seite des Atlantiks überzeugt ist. Trumps Wahl ist ein heftiger Schlag gegen die Stabilität der westlichen Demokratie. Wenn ein ausgewiesener Populist, der gleichermaßen gegen Frauen, Minderheiten und liberale Grundsätze hetzt, plötzlich zum US-Präsidenten aufsteigt, kann das nicht gut sein. So weit, so offensichtlich.

Das Wohl und Wehe der Demokratie auf diesem Planeten hängt jedoch nicht von einem einzelnen Mann ab. Trump in dieser Hinsicht zu überhöhen, hieße nur, sich seinem Schicksal zu fügen und dem Siegeszug des Populismus tatenlos zuzusehen. Dann hätte in Europa jeder Einzelne Schuld an einer weiteren „Trumpisierung“ der Politik. Das zu verhindern, wird die entscheidende Aufgabe in den kommenden Monaten und Jahren.

Die neue Realität: Auf die USA ist kein Verlass mehr

Worauf kommt es dabei an? Europa muss sich mit der neuen Realität, die durch Trumps Wahl zweifelsohne entstanden ist, auseinandersetzen und die richtigen Schlüsse aus dem Wahlabend ziehen.

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Was ist also die neue Realität? Einfach gesagt: Auf die USA ist globalpolitisch gesehen kein Verlass mehr. Die Vereinigten Staaten sind ein tief gespaltenes Land, mit einer Vielzahl an Problemen und einem akuten Mangel an Lösungen. Das Land taugt im aktuellen Zustand als alleiniger Anführer der westlichen Welt nicht mehr und die USA weiter als Vorbild zu nehmen, hieße, sich dem gleichen sozialen und moralischen Verfall hinzugeben. Keine Option, wenn man Europa nicht vollends aufgeben und dunklen Zeiten entgegenschlittern möchte.

Die Schlüsse aus dem Wahlabend: Ein Volk in Aufruhr ist unberechenbar

Auch die Schlüsse aus dem Wahlabend sind klar: Ein wütendes Volk ist unberechenbar. Umfragen, Meinungen von Außen oder schlichte politische Vernunft spielen keine Rolle mehr, wenn der Hass auf das „Establishment“ ein gewisses Maß erreicht hat.

Trump-Anhänger auf seiner Wahlparty (Bild: AP Photo/Mary Altaffer)
Trump-Anhänger auf seiner Wahlparty (Bild: AP Photo/Mary Altaffer)

Was am 8. November in den USA passiert ist, sollte unbedingt als Fingerzeig sowie als Drohung an Europa verstanden werden. Für Deutschland ist diesbezüglich natürlich der Blick auf die Bundestagswahlen im Herbst 2017 entscheidend. AfD, Front National und Konsorten zu unterschätzen, ist seit dem US-amerikanischen Wahlabend passé.

Das kann getan werden: Konfrontation und Eigenständigkeit

Das sind unangenehme Vorzeichen, keine Frage. Europa steht vor massiven Herausforderungen. Das Gute ist: Aus besagten Vorzeichen lässt sich klar ableiten, welche Risiken bestehen – und welche Chancen.

Zunächst einmal müssen die westlichen Demokratien aufhören, sich von den Populisten im eigenen Land vor sich her treiben zu lassen. Es wird Zeit für einen klaren Konfrontationskurs gegen AfD und Co. Auch Vernunft und Hoffnung lassen sich emotionalisieren – nicht nur Angst. Es wird Zeit, dass sich die gemäßigten Politiker in Deutschland, Frankreich sowie dem Rest Europas diese Realität wieder vor Augen führen und der Öffentlichkeit aufzeigen, was die Populisten dieses Landes sind: Panikmacher ohne Lösungen, Prediger des Hasses ohne ein Rezept für die Zukunft. Dazu braucht es Fakten, Empathie und Eloquenz. Eine komplexe Mischung – aber eine, die entstehen kann.

Kurioserweise könnte Trump seinen Beitrag dazu leisten, dass diese Gegenbewegung in Europa entsteht. Ähnelt sein Regierungsstil auch nur ansatzweise seinem narzisstischen Wahlkampfstil, dann residiert das schillerndste Beispiel gegen Populismus bald im Weißen Haus. Für die USA könnte das katastrophale Auswirkungen haben – Europa könnte dadurch hingegen gerade noch zur Vernunft kommen, bevor es zu spät ist.

Verantwortung für Europa und die Welt – durch Europa

Langfristig entscheidender wird jedoch sein, dass Europa endlich Verantwortung für sich und die Welt übernimmt. Westliche Werte werden nicht durch schlichtes Aussitzen und Herumlavieren verteidigt. Demokratieerhalt ist ein anstrengendes, mitunter ermüdendes Geschäft, dessen Wichtigkeit sich erst zeigt, wenn die Grundwerte in akuter Gefahr schweben.

Kommentar: Ein unerwarteter Schlag in die Magengrube

Die USA fällt für diese Führungsrolle auf unabsehbare Zeit weg. Für Europa gibt es damit keine Ausreden mehr: Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist man auf sich selbst angewiesen. Der Kontinent befindet sich am Scheideweg – und das ist gut so. Nur auf diese Weise können Politik und Gesellschaft zwischen Polen und Spanien lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und ein europäisches Demokratieverständnis zu entwickeln.

Soziale Gerechtigkeit, Kompromissbereitschaft und Vernunft als treibende Kraft hinter politischen Entscheidungen. Der europäische Weg sollte der ideelle Gegenentwurf zur selbstzerstörerischen USA des Präsidentschaftswahlkampfs sein. Gelänge es, westliche Demokratie auf europäischer Ebene neu zu denken, wäre der Kontinent endlich erwachsen geworden und könnte sich seines drängendsten Problems, der Verdrossenheit gegenüber der aktuellen Situation innerhalb der Bevölkerung, Schritt für Schritt entledigen. Ist das einfach? Nein. Ist es möglich? Ja. Und spätestens nach der US-Wahl gilt: Wenn nicht jetzt, wann dann?

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