Analyse: Genozid an Palästinensern? Und Gaza wie das Warschauer Ghetto?

Im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern tauchen immer wieder historische Vergleiche auf. Intellektuelle benutzen sie, oder Aktivisten – aber auch die Stammtische. Was taugen sie? Eine Einordnung.

Warschau 1943: Jüdische Zivilisten werden während der Zerstörung des Ghettos von deutschen Soldaten abgeführt (Bild: U.S. National Archives/via REUTERS)
Warschau 1943: Jüdische Zivilisten werden während der Zerstörung des Ghettos von deutschen Soldaten abgeführt. (Bild: U.S. National Archives/via REUTERS)

Eine Analyse von Jan Rübel

Greta Thunberg tut es gefühlt jeden zweiten Tag. "Stoppt den Genozid", ruft sie in Mikros, schreibt sie auf Plakate für Social-Media-Selfies. Damit meint die Klimaaktivistin, dass der Krieg in Gaza gegen die Palästinenser ein Genozid sei.

Und dann ist da gerade die russisch-amerikanische Intellektuelle Masha Gessen. Um eine Preisverleihung für sie in Deutschland gab es einigen Wirbel, weil sie kurz vorher in einem Essay im "New Yorker" geschrieben hatte, man solle im Gazastreifen die jüdischen Zwangsghettos im von den Nazis besetzten Europa wiedererkennen. Nur das würde Gessen zufolge zu einer Sprache verhelfen, um zu beschreiben, was sich gerade in Gaza abspielt: "Das Ghetto wird liquidiert."

Was ist an solchen Vergleichen dran? Und was ist das Motiv?

Da geht es zum einen um den Versuch, Grausamkeiten in Worte zu pressen. Das Leid der Palästinenser in Gaza ist nicht erst seit ein paar Wochen da. Seit Jahrzehnten ist das Gebiet kein guter Ort zum Leben: 1967 wurde Gaza besetzt und ist seit 2005 nach dem Abzug israelischer Soldaten abgeriegelt. Viele Menschen leben auf engem Raum, mit wenigen wirtschaftlichen und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Die Freiheit ist gering. Und nun auch noch der Krieg mit seinen vielen Toten.

Chronologie in Karten: Israel und die palästinensischen Gebiete. (Grafik: S. Scheffer, P. Massow; Redaktion: C. Wiemann, B. Jütte)
Chronologie in Karten: Israel und die palästinensischen Gebiete. (Grafik: S. Scheffer, P. Massow; Redaktion: C. Wiemann, B. Jütte)

Gerade weil sich die Weltgemeinschaft an die Tragik der Palästinenser gewöhnt hat, kommen diese starken Begriffe auf. Es ist ein Stück Hilflosigkeit angesichts des tatenlosen Zuschauens, dass sich für Palästinenser nicht ändert. Dass eine Besetzung wie im Westjordanland noch im 21. Jahrhundert als normal gilt. Um einen Aufschrei hinzukriegen, zumindest eine Aufmerksamkeit, fällt dann Drastisches wie "Genozid" und "Warschauer Ghetto".

Doch in Gaza geschieht kein Völkermord. Die Bevölkerung wächst seit Jahrzehnten. Und es sterben zwar gerade viele unschuldige Menschen. Aber die Zahlen geben keinerlei Hinweis darauf, dass die Gruppe der Palästinenser in einem Ausmaß getötet wird, welches auf eine Dezimierung oder eine Vernichtung hinausläuft. Die Tutsis in Ruanda erlebten einen Völkermord, die Armenier im Osmanischen Reich – und die Juden im Zweiten Weltkrieg. Was mit den Palästinensern an Schrecklichem geschieht, ist mit einem Genozid nicht beschrieben.

Dieser Vergleich ist nicht neu

Mit diesem Wort eng verbunden sind die Nazi-Ghettos. Was Gessen in diesen Tagen sagt, ist nicht neu. Gaza wurde schon vor Jahren mit dem Warschauer Ghetto verglichen. Die Hamas sprach davon, aber auch Araber aus anderen Ländern, jüdische Israelis ebenfalls. Auch hier hilft ein Blick auf die Zahlen.

Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Gaza und dem Warschauer Ghetto. In beiden Orten lebten beziehungsweise leben Flüchtlinge; in Gaza sind es jene, die wegen des Krieges von 1948 ihre Heimat verlassen mussten. Aus beiden Orten kommt man kaum raus, es gibt eine Kontrolle durch äußere Mächte. Auch Tunnel hatte man in beiden Orten. Damit endet aber auch schon das Gemeinsame.

Denn Gaza ist zwar dicht besiedelt, die Dichte im Ghetto aber war ungleich höher. Auch ist Gaza nicht nur von Israel abgeriegelt, sondern auch von Ägypten – die Rolle Kairos beim Leid in Gaza ist in der Regel unterbelichtet, aber schwerwiegend. Im Ghetto herrschte indes nur eine Macht, und das waren die deutschen Nazis.

Im Warschauer Ghetto wehrten sich die Juden in einem verzweifelten Überlebenskampf gegen die deutschen Soldaten. Das Ghetto war die Vorstation auf dem Weg zur Vernichtung. Von den 400.000 Einwohnern wurden 300.000 nach Treblinka gebracht und ermordet. 100.000 starben an Hunger und durch Krankheiten. 200 Juden von 400.000 überlebten den Aufstand. Wollte man diese Zahlen auf Gaza übertragen, müssten allein mehrere Hunderttausend Palästinenser an Hunger und Krankheiten sterben.

Auch ist die Lage der Palästinenser nicht vergleichbar hoffnungslos. Sie sind mit dem Land verwurzelt, sie fordern noch immer ihren eigenen Staat, ihre Selbstbestimmung. Was den Palästinensern droht, ist eine Art politischer Tod. Israels aktuelle Regierung besteht mehrheitlich aus Menschen, die keinen palästinensischen Staat wollen und ihn immer verhindert haben. Sie stellen sich gegen die Forderungen der Weltgemeinschaft und schaffen Fakten am Boden. So ist Gaza kein Ghetto, sondern ein Fake-Ministaat, der den Palästinensern eintrichtern soll, dass sie diese Verhältnisse zu akzeptieren hätten.

Das Drastische vernebelt

Ein Vergleich mit den Ghettos der Nazis macht also aus mehreren Gründen keinen Sinn. Hinzu kommt, dass es Palästinensern schadet, wenn man mit unpassenden historischen Vergleichen daherkommt: Diese werden widerlegt, und die halbe Welt hängt sich daran auf, anstatt auf das tatsächliche Leid zu schauen. Auch verengen die Nazivergleiche den Blick in die Zukunft. Denn den Palästinensern würden Formen gewaltfreien Protests gegen ihre Unfreiheiten helfen – wenn der Konflikt aber zu einem Überlebenskampf hochgeschrieben wird, den man nicht gewinnen kann (wie es bei den Juden gegen die Nazis der Fall war), dann steht nur noch Gewalt als Option auf der Agenda.

Es ist Zeit, sich von diesen historischen Vergleichen zu lösen. Sie dämonisieren. Sie überdecken wahre Probleme. Und sie weisen keine Wege zur Lösung auf.

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