Kommentar: Unsere verdammte Schnappatmung gegenüber allem Palästinensischen

Sich im Ton vergreifen, das scheint die neue Mode zu sein. Besonders anfällig sind gute Bekannte: CDU-Politiker, Polizeigewerkschaftler und Boulevardjournalisten. Nun kommt sie wieder hoch, die alte Verachtung für den Araber an und für sich.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Muslime beten nach einer propalästinensischen Demo am Berliner Alexanderplatz (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)
Muslime beten nach einer propalästinensischen Demo am Berliner Alexanderplatz (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)

Mit Friedrich Merz verhält es sich mittlerweile wie bei einem Quartalstrinker. Da verhält er sich eine gewisse Zeit lang normal, hält zum Beispiel beim Deutschlandtag der Jungen Union eine passable Rede. Und dann kann man dennoch die Uhr danach stellen, wann es wieder heißt: Merz running wild. Wenn er wieder einen raushaut.

Merz macht es sich einfach

Am Sonntag juckte es ihn wohl mal wieder. Er x-te: „Sollte es Flüchtlinge aus #Gaza geben, dann sind diese zunächst einmal ein Thema für die Nachbarstaaten. Deutschland kann nicht noch mehr #Flüchtlinge aufnehmen. Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.“ Das Motiv des Vorsitzenden der Partei mit dem C im Logo (wofür stand das noch mal?) ist klar umrissen: Irgendwas gegen Palästinenser, weil Merz meint, man erwarte das von ihm. Also verunglimpft er pauschal eine ganze Menschengruppe, er macht die Rechnung auf: Mensch aus Gaza = Antisemit. Genauso funktioniert Rassismus. Seine Schnittmuster sind einfach, aber effektiv.

Es scheint indes in der Luft zu liegen, vielleicht hatte Merz zu viel davon. Denn während Merz noch auf „X“ randaliert, findet der Vorsitzende der Berliner Polizeigewerkschaft nach Angaben des „Checkpoints“ des Berliner „Tagesspiegel“ für die Randale in Neukölln die Worte „religiöser Krieg“. Es scheint immer höher gehen zu müssen.

"Religiöser Krieg in Neukölln"? Wie bitte?

In Neukölln und anderswo gab es Ausschreitungen. Prügeleien mit Polizisten, Flaschen und Böller. Da kam viel hoch. Dies aber einen „Krieg“ zu nennen, ist eine Übertreibung von eins auf hunderttausend. Es dann auch noch religiös zu finden, zeugt von kompletter Unkenntnis der Lage und disqualifiziert als Polizisten. Religion spielt bei den jungen Männern und ihren Ausbrüchen eine komplett kleine Nebenrolle. Aber klar, „religiöser Krieg“ klingt griffiger. „9/11“ wurde auch so bezeichnet.

Und dann sind da noch die Kollegen vom Boulevard, die sich aus beruflichen Gründen schneller in Aufregung gesetzt sehen. Am Brandenburger Tor in Berlin rollen rund 50 Muslime ihre Gebetsteppiche aus und beten friedlich? „Eine verstörende Aktion“, schreibt „Bild“ als Untertitel. Und eine junge Frau, die bei Demos auffällt, weil sie Slogans vorspricht? „Sie trägt Chanel. Hermès und Rolex: Wer ist die Einpeitscherin der Juden-Hasser?“, fragt „Bild“. Mir kommen da andere Fragen: Ist jeder Teilnehmer einer Demo, bei der auch Judenfeindliches gerufen wird, automatisch ein „Juden-Hasser“? Ist jeder Vorsprecher von Slogans ein „Einpeitscher“? Und was spricht gegen Luxusschmuck? War die Redaktion sauer, weil das klischeebewehrte Kopftuch fehlte?

Man kennt diesen Trick aus anderen Keilereien. Sobald etwa eine Klimaaktivistin es wagt, in glamourösem Outfit zu demonstrieren, findet sich ein missgünstiger Zeitgenosse, der sich zu plumper Symbolik zurückzieht und entsprechende Schlagzeilen schreibt.

Da kommt was hoch

All diese Einzelbeispiele singen ein gemeinsames Lied. In einer Strophe verweist es Palästinenser in Deutschland an den Katzentisch: Sie sollen bloß nicht laut werden. In einer zweiten wird ihnen bedeutet, dass es für ihr Leid und für ihre Ängste keinen Platz gibt. Und in einer dritten, der längsten, offenbart sich der ganze orientalistische Quatsch, mit dem sich Deutsche über Jahrzehnte einbalsamierten: Über den Araber, den es nur in den beiden Extremen des religiösen Fanatikers oder des geheimnisvollen Ehrenmannes gibt. All die selbst ernannten „Experten“ von Konzelmann bis Scholl-Latour „peitschten“ es uns ein, wie „Bild“ sagen würde – das Bild eines sagenumwobenen Orients, eines Sehnsuchtsortes, oder eben Terrorwüste. Top oder Flop. Auf jeden Fall an der Wirklichkeit zielstrebig vorbei.

Die Lage im Nahen Osten ist schlimm genug. Da brauchen wir keine verbalten Einpeitschungen à la Merz. Wir brauchen Differenzierung. Nur das eröffnet den Blick auf Mögliches wie einen Frieden.

Im Video: Pro-palästinensische Demos in Berlin und anderen deutschen Städten