Deutschlands EM-Verweigerer - Ich traf drei Exoten, die sagen: „EM? Fußball? Interessiert mich nullkommanull!“

Viele Deutsche fiebern als Fans bei der EM mit, manch andere interessieren sich gar nicht für das Turnier<span class="copyright">Getty</span>
Viele Deutsche fiebern als Fans bei der EM mit, manch andere interessieren sich gar nicht für das TurnierGetty

Deutschland gegen Spanien im Viertelfinale – für Fußballfans und Eventliebhaber ist die EM eine geheiligte Zeit. Aber es gibt auch sie: Diejenigen, die gar keine Lust auf das Turnier haben. Wer sind diese Exoten? Augenzwinkernde Erfahrungen im fußballerischen Grenzbereich.

Unterhaltung mit Denis, einem Freund: Schon klasse, diese Fußball-EM in Deutschland, oder? Die bunten Feierbilder, die friedlichen Völkerverständigungen, die Spiele sowieso. Ich kenne Denis lange und weiß, dass er weiß, dass ich es weiß: Er kann diesen Zirkus überhaupt nicht verstehen. Also wirklich so überhaupt gar nicht.

Fußball. Eine Europameisterschaft. Bei uns im Land. Gibt’s noch was Öderes?

Das finde ich spannend, im Ernst. Alle reden doch über diese EM, und alle gucken doch auch. 22,5 Millionen im Schnitt bei Deutschland gegen Schottland, fast 24 Millionen bei Deutschland gegen Ungarn, über 25 Millionen bei Deutschland gegen Schweiz, fast die gleiche Zahl bei Deutschland gegen Dänemark, dem denkwürdigen Donnermärchen. Und das sind lediglich die TV-Quoten der Öffentlich-Rechtlichen, ohne andere Sender, ohne die zahllosen Grillpartyschauer, Fanmeilenbesucher, ohne alle anderen.

Die vier Menschengruppen bei Fußballturnieren

Meiner Ansicht nach gibt es bei jedem Fußballturnier vier Gruppen von Menschen.

Erstens: klassische Sportfans.

Zweitens: Eventfans, die ehrliches Interesse am Ereignis zeigen und herzlich eingeladen sind, sich dem Trubel anzuschließen.

Drittens: Eventfans, die kein Interesse am Ereignis, aber durch das Ereignis sehr viel Interesse an der eigenen Inszenierung haben.

Und viertens: die Verweigerer. Das ist die speziellste, da unergründlichste Spezies.

Ich frage mich: Gruppe vier, was sind das denn für Exoten?

Also gehe ich zu Denis, er sagt: „In meinem Freundeskreis gibt es außer einem verrückten Journalisten (Anmerkung des Autors: Name unklar, wir bleiben dran) eigentlich niemanden, der großartig Fußballfan wäre. Wenn meine Freunde alle in Restaurants sitzen, die EM gucken und mich mitziehen würden, wäre es bei mir zwangsweise auch so. Aber ich habe mir schon die richtigen Freunde gesucht, dass ich das nicht anschauen muss. Letztens habe ich gerade nach einer neuen Serie gesucht, als ich von draußen Jubelschreie hörte...“

EM-Qualen: „In der Halbzeit endlich den Absprung geschafft“

Nur einmal, beim Ungarn-Spiel, gab es in seiner Arbeit ein Gruppen-Gucken. „Da wollte ich pünktlich mit Spielbeginn gehen“, erzählt mir Denis, aber keine Chance, insistierten die Kollegen. Also saß er „bei schönstem Sommerwetter in einem Konferenzraum“ und beobachtete die taktische Finesse von Ilkay Gündogan gepaart mit der technischen Brillanz eines Jamal Musiala.

Sicherlich ein Erweckungserlebnis: die Magie des Spiels, das Flair der Atmosphäre, der komplette Zauber eben. Oder wie Denis es formuliert: „In der Halbzeit habe ich endlich den Absprung geschafft.“

Diese 45 Minuten gegen Ungarn seien „das einzige Mal gewesen, dass ich damit in Berührung kam“, sagt er, wobei er das Wort „damit“ in aufrichtiger Abneigung betont. Klingt irgendwie witzig, als hätte er ein giftiges Tier gesehen, das lieber zu meiden ist: Bloß weg hier!

„Ich mag auch die Leute nicht, die Deutschland jetzt so glorifizieren“

Wie Denis geht es auch meinen Freunden Theresa und Jakob. „Mich interessiert Fußball nicht, null“, sagt Theresa und stellt die gnadenloseste aller Gegenfragen: „Wieso sollte ich die EM gucken, wenn ich sonst auch nie Fußball schaue?“

Bei Denis und ihr fand keine frühkindliche Sozialisierung statt – konträr zu mir, der ich in den 90ern einer hoffnungslosen Zuneigung zum Fußball erlag und heute noch darüber sinniere, wie der nigerianische Superstürmer Victor Ikpeba mit dem Wechsel von Monaco nach Dortmund 1999 seine Karriere ruinierte.

Denis und Theresa sehen mich an. Sie sagen nichts.

„Ich mag zum Teil auch die Leute nicht, die Fußball schauen und Deutschland jetzt so glorifizieren“, meint Theresa nach einer etwas zu langen Pause. „Das regt mich auf, deswegen spare ich mir das.“

Ob sie bewusst etwas unternehme, um während der EM den Konsum- und Informationsfluss zu kappen? „Nicht wirklich. Ich verbringe meine Zeit einfach mit was anderem.“ Bei Denis ist es extremer, er geht „extra mit dem Hund raus“, wenn Deutschland spielt (und er nicht gerade in Konferenzräumen gefesselt festgehalten wird).

Der deutsche EM-Vibe als Gemeinschaftserlebnis

Jakob wiederum zählt zur zweiten der vier Fußballturnier-Menschengattungen. „Eigentlich gucke ich nicht. Bundesliga, Champions League – den ganzen Kram, wenn Vereine gegeneinander spielen“, sagt er. „Bei der EM ist es etwas anderes, weil ich das Gefühl habe, dass alle für ein Team sind. Es gibt nicht Team Bayern, Team BVB oder Team Leverkusen. Alle sind für die deutsche Mannschaft.“

Beim fesselnden Achtelfinale, Deutschland gegen Dänemark, war Jakob am Brandenburger Tor und mochte es. Er findet, dass es einem weltweit beachteten Turnier „eher gelingt, die Massen zu mobilisieren – vor allem auch Menschen, die normalerweise keinen Lieblingsverein haben“. Das erste Wort der deutschen Nationalhymne sei ein „Sinnbild“ für das Gemeinschaftserlebnis, das die EM bei ihm auslöse: „Einigkeit. Das trifft es gut.“

Und noch etwas schätzt er am EM-Vibe: „Wenn Lieder zu Sommersongs werden, wenn die Fanmeilen voll sind und es Zerstreuung bietet, die wir auf jeden Fall brauchen mit all den Krisen, die es gibt.“

„Bei einer WM habe ich schon immer mitgeguckt“

Um ehrlich zu sein, heißen Denis, Theresa und Jakob in Wahrheit nicht Denis, Theresa und Jakob. Sie wollen aber lieber unerkannt bleiben, vermutlich aus Furcht vor sozialer Ächtung. Kleiner Spaß.

„Ich kriege schon mit, wie die deutschen Spiele ausgegangen sind, aber es ist mir halt egal, ob sie jetzt gegen Spanien rausfliegen oder weiterkommen“, sagt der sogenannte Denis, ehe er spektakulär unspektakulär, nahezu beiläufig, einen finalen Satz nachschiebt: „Bei einer WM ist das anders, da habe ich schon immer mitgeguckt.“

Und das ist nun der Moment, in dem ich gerne schweigen und die Worte einfach wirken lassen möchte.