ESC-Rassismusvorwurf: Das Ende der unschuldigen Popmusik

Nach dem Eurovision Song Contest (ESC) 2018 ist eine Debatte um den Auftritt der Gewinnerin Netta entbrannt. Es geht um Politik, Rassismus und die Verantwortung von Stars in der Öffentlichkeit.

Schon werden kritische Stimmen gegenüber Netta laut: War ihr Auftritt rassistisch? (AP Photo/Armando Franca)
Schon werden kritische Stimmen gegenüber Netta laut: War ihr Auftritt rassistisch? (AP Photo/Armando Franca)

Eigentlich hätte Netta Barzilai allen Grund zur Freude. Schließlich hat sich die israelische Künstlerin gerade mit ihrem Song „Toy“ die Krone der europäischen Popmusik aufgesetzt. Doch nach dem Event am Samstagabend in Lissabon prägt plötzlich eine anderes Thema die Schlagzeilen. Die Vorwürfe gegen die Künstlerin reichen von Rassismus bis hin zu „cultural appropriation“. Übersetzt bedeutet das kultureller Aneignung – also die Verwendung von Symbolen oder zugeschriebenen Charakterzügen einer Kultur durch jemanden, der ihr selbst nicht angehört. Und das meist aus einer privilegierten Position heraus zur kommerziellen Ausschlachtung.

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Im fall von Netta geht es um den Auftritt beim ESC-Finale in Lissabon. Da zeigte sich die weiße Sängerin nämlich in einem Kimono, das Haar und Make-Up war stereotypisch asiatisch aufgemacht, im Hintergrund das klischeehafteste aller Japan-Klischees: Goldene Winkekatzen. Der Shitstorm ließ nicht lange auf sich warten. In den sozialen Medien äußerten viele Fans ihr Unbehagen. Die stießen sich nicht nur am Outfit, sondern auch daran, dass die Sängerin sich in ihrer Rede für kulturelle Vielfalt stark machte – es ihr selbst aber offensichtlich an Sensibilität für unterschiedliche Kulturen mangelt.

In Deutschland mag man davon etwas überrascht sein, doch in anderen Ländern – allen voran den USA und England- ist diese Debatte längst in der Mitte der Gesellschaften angekommen. Es geht dabei soziologisch gesehen um die Verwendung von rassistischen Stereotypen und Klischees. In den meisten Fällen gegenüber der afroamerikanischen Kultur oder asiatischen und nahöstlichen Ländern. In der Theorie ist es die moderne Fortführung von Orientalismus und Kolonialismus. Auch deshalb wird die Debatte in Deutschland auf einem anderen Niveau geführt, weil die koloniale Vergangenheit in viel kleinerem Rahmen aufgearbeitet wurde als bei den ehemaligen kolonialen Großmächten.

Kimono und Winkekatzen: Netta wird kulturelle Aneignung vorgeworfen (AP Photo/Armando Franca)
Kimono und Winkekatzen: Netta wird kulturelle Aneignung vorgeworfen (AP Photo/Armando Franca)

Aber auch hierzulande finden sich Spuren des „blackfacing“, in Faschingskostümen etwa, oder die Diskussion um Begrifflichkeiten, die auf rassistischen Ursprüngen beruhen. Wie wenig sensibilisiert die Deutschen dafür sind, zeigt sich schnell an den Kommentaren etwa zu den aktualisierten Fassungen von Jim Knopf oder Pippi Langstrumpf, die auf rassistische Terminologie verzichteten. In der Musik gab es eine solche Debatte hier bisher noch nicht, allenfalls wenn es um Texte von Kinderliedern geht.

Dass jetzt um den ESC herum eine solche Kritik laut wurde ist ein Zeichen dafür, dass auch die Popmusik sich nicht in einem abgekapselten Raum von aktuellen gesellschaftlichen Debatten bewegt. Heikel ist diese Frage natürlich in diesem Fall auch deshalb, weil der Eurovision Song Contest im kommenden Jahr in Israel ausgetragen wird, einem Land, das nie unberührt von politischen Konflikten betrachtet wird. Im Kern der jetzigen Diskussion steht die Frage: Wie viel kulturelles Einfühlungsvermögen darf man von einem Popstar erwarten?

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Man mag das alles als harmlose Naivität und die Debatte als völlig überzogen abtun. Doch das wäre zu einfach. Denn der Gegenwind ist Ausdruck einer größeren Bewegung, die bestehende Verhältnisse laut und sichtbar in Frage stellt,wie auch die #MeToo-Debatte. Solche Diskussionen finden zunächst oft eine Plattform in der Popkultur von wo aus sie die Mitte der Gesellschaft erreichen. Ganz neu ist gerade dieses Thema der kulturellen Aneignung nicht. Denn die israelisch Sängerin hätte längst aus den Fehlern prominenter Kolleginnen lernen können. Katy Perry leistete sich einen ganz ähnlichen Faux-Pax, als sie 2013 bei den Video Music Awards in einem Geisha Kostüm performte.

Katy Perry bei den VMAs 2013 (Photo by John Shearer/Invision/AP)
Katy Perry bei den VMAs 2013 (Photo by John Shearer/Invision/AP)

Inzwischen hat sie sich dafür entschuldigt und in einem Interview bestätigt, dass sie viel aus der Kritik um ihren Auftritt gelernt habe. Kylie Jenner bekam das ebenso zu spüren, als sich das Kardashian-Küken vor ein paar Jahren mit „Cornrows“, also geflochtenen Dreadlocks, für ein Selfie ablichtete. Und selbst die Königin aller Popstars ist davor nicht gefeit. Als Beyoncé sich im traditionellen indischen Kostüm zeigte, bekam auch sie den Vorwurf der „cultural appropriaton“ zu hören.

Wie es besser geht, zeigt aktuell ausgerechnet ein Rapper, ein Vertreter ebenjenes Genres, das in Deutschland gerade in Form von Kollegahs Echo-Skandal Schlagzeilen gemacht hat. Gerade veröffentlichte nämlich das Multitalent Donald Glover unter seinem Rap-Alter Ego Childish Gambino ein aufsehenerregendes Musikvideo zu seinem Song „This is America“. Da spielt der Comedian/Schauspieler/Musiker mit den Klischees und Rollenbildern von Afroamerikanern in der US-Kulturgeschichte. Das Video schlug hohe Wellen und gab der Diskussion einen neuen Anstoß.

Bisher gab es von Nettas Seite keine Kommentare zu den Vorwürfen zu ihrem Auftritt. Sie täte gut daran, Katy Perrys Vorbild zu folgen und aus der Debatte etwas für sich mitzunehmen. Denn letztlich ist die Kritik immer auch eine Chance, eigene Denk. Und Verhaltensmuster zu hinterfragen. Insgesamt zeigt sich in jedem Fall, dass auch ein klassisches Entertainment-Event wie der ESC sich in Zeiten von sozialen Medien und einem geschärften Blick auf die historischen Ungleichheiten der Welt nicht vor gesellschaftlichen Veränderungen wegducken kann.