"Gezielte politische Verharmlosung": TV-Doku beklagt politisches Versagen bei Attentaten

Die Terror- und Amok-Anschläge von Halle (Saale), Christchurch in Neuseeland oder am Olympia-Einkaufszentrum in München waren Irrsinns-Taten von sogenannten "einsamen Wölfen". Experten beklagten in einer TV-Doku nun erhebliche Versäumnisse der Politik bei rechtsextremistischen Gewalttaten.

Er wollte gezielt töten. Am 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) plante Stephan Balliet den Massenmord an Juden am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Lediglich eine gut verschlossene Tür verhinderte das Eindringen des Einzeltäters in die Synagoge im Paulusviertel. An diesem traurigen Tag fielen schließlich eine Passantin und ein Gast eines Döner-Imbisses Balliet zu Opfer. Das Perfide: Der Täter übertrug sein mörderisches Vorhaben mit einer Helmkamera live ins Netz. Doch wer oder was motivierte Balliet und andere rechtsextreme Täter zu solch grausamen Verbrechen? Und was können die Polizei und die Politik tun, um derartige Taten zu verhindern? In ihrem am Montagabend ausgestrahlten Film "Die Story im Ersten: Der Terror der einsamen Wölfe" begaben sich die Autoren Christian Bergmann und Florian Barth auf Spurensuche.

Der wegen zweifachen Mordes und neunfachen versuchten Mordes angeklagte Balliet ist einer jener Täter, die sich im Internet radikalisiert haben und ihre tödlichen Konsequenzen für andere teils mit rechtsextremen Manifesten zu rechtfertigen versuchen - sogenannte einsame Wölfe, wie die Dokumentation erklärt. Dazu gehören auch die Täter, die im neuseeländischen Christchurch oder am Münchner Olympia-Einkaufszentrum Anschläge verübten.

Cybercrime-Staatsanwalt Christoph Hebbecker erklärt im Film: "Es liegt auf der Hand, dass bei Personen, die sich in einer Blase bewegen, in der zunehmend Empathielosigkeit herrscht, in der ganz bewusst gehetzt wird gegen Leute, die bestimmte Merkmale aufweisen, die Hemmschwelle sinkt und möglicherweise auch die Gefahr steigt, dass nicht nur Hass im Netz verteilt wird, sondern auch Straftaten in der analogen Welt begangen werden."

"Wir haben deutlich die Grenzen des deutschen Rechtsstaats erfahren"

Radikalisiert hatten sich die Attentäter vor ihren Taten in rechtsextremen Internetforen, sogenannten Imageboards. Unter dem Deckmantel der Anonymität tauschen User dort ihre menschenverachtenden Ideologien aus, bestärken sich gegenseitig und planen Attentate, etwa mithilfe von Egoshooter-Spielen. "Die Gamification des Terrors schreitet rasant voran", bestätigt der Extremismusforscher Florian Hartleb vor der ARD-Kamera. Ranglisten mit High Scores für Todesopfer wie in Computerspielen warten dort genauso wie spezielle Boni für Kindstötungen.

So grausam die Taten auf der ganzen Welt und so ähnlich die Motive sein mögen, so rückständig erscheint das Vorgehen der Sicherheitsbehörden. "Sie haben in den letzten fast 20 Jahren so viel Zeit und Mühe damit verbracht, sich mit dem extremistischen Islam auseinanderzusetzen, dass sie nicht genug darauf geachtet haben, was hinter den Mauern des Internets vor sich geht", lautete das vernichtende Urteil des US-amerikanischen Sicherheitsberaters Paul Buchanan in der Dokumentation.

Ein Behördenversagen sieht auch die Rechtsanwältin Claudia Neher, die noch immer für Gerechtigkeit für die Opfer des Attentats von München im Jahre 2016 kämpft. Erst 2019 wurde offiziell ein rechtsextremistischer Hintergrund bei der Ausübung des Anschlags eingeräumt - eine "gezielte politische Verharmlosung", wie die Anwältin im 45-minütigen Film anprangert: "Wir haben deutlich die Grenzen des deutschen Rechtsstaats erfahren, und das ist kein schönes Gefühl."

Damit spielt Neher unter anderem auf globale virtuelle Tötungslisten und andere Hinweise an, die in rechtsextremen Foren die Runde machten, vor Gericht aber fatalerweise ignoriert wurden. Wenige Monate später kam es zum verheerenden Verbrechen in Christchurch - verübt von einem nachweislichen Chatbekannten des Münchner Täters.

Cyberkriminologe fordert "zehn- bis zwanzigmal" so viel Personal

In der umfangreich recherchierten und tiefschürfenden Dokumentation gelang es den Filmemachern aber auch, Aussteiger aus der Szene vor das Mikrofon zu bringen. Ein ehemaliges Mitglied des "Anti-Refugees-Clubs", einer Chatgruppe auf der Onlinegames-Plattform Steam, berichtete: "Ich wollte Anerkennung in einer sozialen Gruppe. In der Szene sind alle recht jung. Ich fühlte mich von diesen Leuten verstanden, wenn ich etwas Attentatsverherrlichendes gepostet habe."

Wie aber kann der Rechtsstaat diesen Foren, die Rechtsextremismus-Experte Miro Dittrich als "Todessekten" bezeichnet, wirkungsvoll Einhalt gebieten und die gefährlichen Pläne ihrer Mitglieder zunichtemachen? Thomas-Gabriel Rüdiger, Cyberkriminologe an der Polizeihochschule Brandenburg, sieht in der "Story im Ersten" vor allem eine Lösung: "Wir brauchen eine massive Erhöhung des Personals der Sicherheitsbehörden im Netz." Zehn- bis zwanzigmal mehr Personal als aktuell verfügbar sei seiner Einschätzung nach nötig.