Vor Gipfel in Washington - „Ukraine first“: Wenn Nato jetzt einen Fehler macht, hat das schlimme Folgen für uns alle
Der Nato-Gipfel nächste Woche in Washington und die Wahlen in den USA entscheiden darüber, wie der Ukraine-Krieg ausgeht – und damit auch, wie die Zukunft der europäischen Sicherheit aussieht. Zwei Politikwissenschaftler mahnen den Westen zu einer klaren Haltung.
Vom 9. bis zum 11. Juli 2024 findet in Washington der Nato-Gipfel statt. Zum 75. Jubiläum sollen die historischen Erfolge des Bündnisses gewürdigt werden. Doch mit dem Schwelgen in Erinnerungen ist niemandem gedient.
Der Ukraine-Krieg stellt die 32 Mitgliedsstaaten des 1949 gegründeten Militärbündnisses vor enorme Herausforderungen. Im schlimmsten Fall droht eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato.
Was also ist von dem Treffen zu erwarten? Welche Signale könnten aus der US-Hauptstadt in die Welt gehen? Welche Szenarien sind insbesondere in Bezug auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine denkbar?
Beim Nato-Gipfel in Washington ist Entscheidung gefragt
FOCUS online bat zwei renommierte Politikwissenschaftler um deren Einschätzung: Andreas Heinemann-Grüder und James Bindenagel, früherer US-Botschafter in Deutschland. Die beiden an der Universität Bonn tätigen Professoren sind Experten für transatlantische Beziehungen und Sicherheitspolitik. Mit dem Ukraine-Krieg befassen sie sich intensiv.
Heinemann-Grüder: „Vom Nato-Gipfel in Vilnius vor genau einem Jahr ging die Botschaft aus: ‚Nato first, Ukraine later‘. Das Bündnis sollte gestärkt, aber die Ukraine erst Mitglied werden, wenn sie für die Nato nicht mehr zum Bündnisfall werden kann – also nie.“
Ein Jahr später laute die entscheidende Frage: Geht es noch um die Ukraine oder nur noch um die Nato?
Dabei sei eine klare Haltung, eine eindeutige Antwort der Bündnis-Verantwortlichen unabdingbar. „Die Zeit des rhetorischen Durchmogelns ist vorbei“, warnt der Politikwissenschaftler. Selbst zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn habe die Nato „keine Antwort darauf, wie sie Russland jenseits der Bündnisgrenzen abschrecken will“.
Seiner Einschätzung nach existiert keine militärische Anti-Putin-Koalition. „Niemand will Kriegspartei an der Seite der Ukraine werden.“ Das unterscheide Russlands Krieg gegen die Ukraine vom Ersten und Zweiten Weltkrieg. Heinemann-Grüder: „Die Ukraine mag ‚unsere‘ Werte verteidigen, aber sie gehört nicht zu uns. Die Ukraine ist nicht Israel, nicht unsere Staatsräson. Putins Drohung mit der Atombombe ist stärker als das Völkerrecht.“
Möglicher US-Präsident Trump: Düstere Ankündigung
Neben dem Nato-Gipfel verweist der Experte auf die Bedeutung der Präsidentenwahl in den USA im Herbst. Der vermeintliche Weckruf der ersten Präsidentschaft von Donald Trump sei „verhallt“, konstatiert er. Dessen mögliche Wiederwahl könnte bei den Nato-Mitgliedern freilich „die Sinne schärfen“.
Niemand sollte daran zweifeln, „dass ein Präsident Trump seine Ankündigung wahrmacht, die Finanz- und Militärhilfen für die Ukraine einstellt und den Krieg zu Putins Bedingungen beendet“, so Heinemann-Grüder. Ohne Präsident Biden mag die EU noch Geberkonferenzen für die Ukraine abhalten, „aber die Front gegenüber der russischen Armee hält sie nicht“.
„Gibt Trump die Ukraine auf, wird Putin die eroberten Gebiete behalten“, glaubt der Professor. „Sicherheitsgarantien gäbe es nicht, geschweige denn die Nato-Mitgliedschaft.“ Putin könnte Trump ein paar medienwirksame Geschenke machen, etwa den inhaftierten US-Journalisten Evan Gershkovich .
„Das Unrecht würde noch eine Weile beklagt, aber bald würde Europa in seinen alten Modus zurückfallen“, prophezeit Heinemann-Grüder. „Das heißt: OSZE-Beobachter entsenden, Verletzungen des Waffenstillstandes dokumentieren, Sanktionen aufheben – und die Ukraine als Investitions- und Exportmarkt entdecken.“
Zur Rolle Deutschlands sagt er: „Die militärische Unterstützung der Ukraine erfolgt in Deutschland ohnehin nur im Schlepptau der USA.“ Der „Friedenskanzler“ Olaf Scholz (SPD) behalte sich stets ein Faustpfand zurück, um die Ukraine zur Nachgiebigkeit zu nötigen. „Kommt Trump, fällt Deutschland als Erstes. Insbesondere in der SPD würde Trumps Wahlsieg wohl heimlich mit Aufatmen begrüßt.“
Der frühere US-Botschafter in Deutschland, James Bindenagel, verweist auf die Situation, in der sich die Ukraine nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands im Februar 2022 derzeit befindet. „Putins Militärmaschine zerstört systematisch die ukrainische Infrastruktur. Ohne Strom funktioniert kein Kühlschrank, keine Toilettenspülung, kein Aufzug, kein Internet, keine Waschmaschine, kein Kochherd.“
„Entgegen der Expertise pensionierter Sofa-Generäle“
Die Lage der Ukraine sei prekär. „Und doch hat sie manches erreicht, entgegen der Expertise pensionierter Sofa-Generäle“, so Bindenagel.
So könne Russland die Krim kaum mehr für Angriffe nutzen, sondern ist dort mit Selbstschutz befasst. Drohnen und Distanzwaffen setzten dem Nachschub auf russischem Territorium merklich zu. „Die russische Kriegswirtschaft geht zulasten aller anderen Investitionen, von Sozialpolitik und Bildung. Die Umgehung der Sanktionen ist kostspielig.“
Russland sei nur noch Juniorpartner Chinas, aber auch von Nordkorea und dem Iran abhängig, bilanziert der Experte. Putins Reich sei geopolitisch wieder „Obervolta mit Raketen“. Russland „soft power“ besteht bestenfalls darin, „mächtiger und gefährlicher zu erscheinen als es tatsächlich ist“.
Experte: Nato muss die Botschaft „Ukraine first“ senden
Doch welche Schlüsse ergeben sich aus diesem Lagebild? Welche Konsequenzen sollten die Teilnehmer des Nato-Gipfels kommende Woche in Washington ziehen?
„Will die Nato einen schmutzigen Frieden à la Trump verhindern oder ihn billigend in Kauf nehmen, das ist die Frage, vor der der Nato-Gipfel steht“, sagt Heinemann-Grüder. Seine Empfehlung: „Die strategische Botschaft von Washington muss ‚Ukraine first‘ lauten, denn die Zukunft der europäischen Sicherheit wird heute im ukrainischen Charkiw entschieden.“
Der Experte weiter: „Putin ist paranoid, so wie es schon Lenin und Stalin waren. Und er ist opportunistisch, so wie die überwiegende Mehrheit der Russen, aber nicht suizidal.“ Der Herrscher im Kreml betreibe eine Politik der Angst. „Aber er versteht selbst die Sprache der Angst.“ Putin teste Grenzen aus, respektiere aber die Grenzen der Macht, wenn sie unmissverständlich demonstriert werden. „Unter Stalin hieß es: Fürchtest du dich, so hast du Respekt.“
Experte: „Nato muss eine europäische Veranstaltung werden“
Als mögliche Handlungsoptionen empfiehlt der Experte: „Durch die dauerhafte Entsendung von Nato-Truppen an ihre Ostflanke werden russische Kräfte gebunden.“ Die Nato könnte zudem signalisieren, dass ein russischer Einsatz von Atomwaffen gegen die Ukraine „der Rubikon ist, der die Selbstbeschränkung bei Waffenlieferungen beendet, einschließlich der Entsendung von Militärs in die Ukraine.“
Wenn die Nato nicht bereit sei, der Ukraine die Mitgliedschaft anzubieten, so könne sie doch das Bewusstsein der Verwundbarkeit im Kreml schärfen. „Und zwar durch die konzertierte Lieferung von Distanzwaffen, Jagdbombern, Drohnen, Panzern, durch Munition, elektronische Kriegsführung, durch Rüstungsproduktion und Wartung in der Ukraine und durch Ausbildung im Lande.“
Andreas Heinemann-Grüder ist sicher: „Kommt der Krieg in die russischen Städte, kann Putin sein Schutzversprechen nicht mehr halten. Das macht die Russen nicht zu Pazifisten, aber sie verlieren den Glauben an ihren Führer.“
Um Trump Wind aus den Segeln zu nehmen, sollte die Botschaft lauten: „Europa ist nicht mehr Trittbrettfahrer, sondern tut im Rahmen der Nato alles für das Überleben der Ukraine.“ Und „alles“ hieße: „Ohne Hintertür zu Putin wie zeitweilig bei Scholz und Macron.“ Gegenüber Putins "trojanischen Pferd Viktor Orban" und gegenüber der türkischen Sabotage von Sanktionen sollte gelten: „Man kann nicht Mitglied der Nato sein und zugleich mit dem Gegner kollaborieren.“
Die Nato sei immer eine amerikanische Veranstaltung gewesen, befindet Heinemann-Grüder. „Sie muss angesichts der möglichen Rückkehr von Trump zu einer europäischen werden.“