Israel hält nach Rafah-Angriff an Kriegsziel fest
Während Israels Führung ungeachtet des weltweiten Entsetzens über den verheerenden Luftangriff mit etlichen Todesopfern in einem Flüchtlingslager in Rafah an ihren Kriegszielen festhält, soll der Weltsicherheitsrat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen. Diplomaten aus dem mächtigsten Gremium der Vereinten Nationen berichteten, das Treffen sei für heute 21.30 Uhr MESZ angesetzt.
Ein Sprecher des US-Außenministeriums bezeichnete die Bilder aus dem Zeltlager für Vertriebene im südlichen Gazastreifen als "herzzerreißend". Man arbeite mit der israelischen Armee und Partnern vor Ort zusammen, um die Umstände des Luftangriffs zu klären. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach im Parlament von einem "tragischen" Vorfall, aus dem man lernen werde. Zugleich betonte er nach Angaben seines Büros jedoch: "Ich werde nicht nachgeben oder kapitulieren. Ich werde den Krieg nicht beenden, bevor wir alle unsere Ziele erreicht haben."
Those who say they cannot withstand the pressure should raise a black flag. No, they should wave a white flag and surrender.
I will not. I will continue the fight until we raise the flag of victory.— Prime Minister of Israel (@IsraeliPM) May 27, 2024
(deutsch: Wer sagt, er könne dem Druck nicht standhalten, sollte die schwarze Fahne hissen. Nein, er sollte die weiße Fahne schwenken und sich ergeben. Das werde ich nicht. Ich werde den Kampf fortsetzen, bis wir die Flagge des Sieges hissen.)
USA betonen Israels Recht, gegen die Hamas vorzugehen
Das israelische Militär hatte bei der Attacke auf ein Lager für Vertriebene nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde mindestens 45 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt. Bei den meisten Toten handelt es sich demnach um Frauen und Minderjährige. UN-Generalsekretär António Guterres verurteilte Israels Vorgehen und forderte: "Dieser Horror muss aufhören."
Ein Sprecher des US-Außenministeriums betonte auf Nachfrage der dpa, Israel habe das Recht, gegen die Islamisten der Hamas vorzugehen. Den vorliegenden Informationen zufolge seien bei dem Angriff zwei ranghohe Terroristen getötet worden. "Aber wie wir bereits deutlich gemacht haben, muss Israel alle möglichen Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung zu schützen", sagte er. Und in diesem Fall seien Dutzende unschuldige Palästinenser getötet worden.
Bericht: Feuer wohl durch Granatsplitter entstanden
Israelische Beamte hätten der verbündeten US-Regierung erklärt, sie glaubten, dass nach dem Luftangriff ein 100 Meter entfernter Treibstofftank möglicherweise durch Granatsplitter Feuer gefangen habe, zitierte der Sender "ABC News" einen US-Beamten. Dadurch habe ein Zelt Feuer gefangen, was wiederum zu dem verheerenden Brand in dem Lager geführt habe. Den USA lägen jedoch keine eindeutigen Informationen hierzu vor.
In sozialen Medien kursierten nach dem Luftangriff verstörende Videos, die zeigen, wie verkohlte Leichen aus brennenden Zelten geborgen werden. Israels Armee hatte mitgeteilt, Vorkehrungen getroffen zu haben, um das Risiko für Zivilisten zu verringern. So sei bei dem Angriff präzise Munition eingesetzt und das Gebiet aus der Luft überwacht worden.
US-Regierung will Angriff noch nicht bewerten
Unterdessen sagten zwei US-Beamte dem Nachrichtenportal "Axios", die Regierung von US-Präsident Joe Biden prüfe noch, ob der tödliche Luftangriff eine Verletzung der von Biden proklamierten "roten Linie" darstelle. Biden hatte Israel unlängst gedroht, die Lieferung einiger US-Waffen auszusetzen, sollte Israels Armee in dicht besiedelte Stadtzentren in Rafah eindringen.
Die US-Regierung lehnt eine große israelische Bodenoffensive in der an Ägypten grenzenden Stadt ab, hatte zuletzt jedoch erklärt, die Einsätze dort hätten bislang nicht das Ausmaß erreicht, vor dem sie gewarnt habe. Die Frage, ob das Außenministerium die Situation nach dem jüngsten Luftangriff weiterhin so bewerte, beantwortete der Sprecher nicht.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass es im Zusammenhang mit dem Angriff einen Fehler der israelischen Seite gegeben habe. Derzeit liefen in Israel Untersuchungen, ob es sich um einen gezielten Angriff gehandelt habe, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. "Auf alle Fälle ist ein Fehler passiert, das kann man jetzt schon sagen", fügte er hinzu.
"Der Schluss, ob das ein Kriegsverbrechen ist im Sinne des Völkerrechtes, das ist etwas, was man Juristen überlassen muss, die die genauen Sachverhalte kennen." Die Maxime laute: "Erst mal untersuchen, was genau passiert ist und dann urteilen. Und nicht anhand von Bildern sofort ein Urteil fällen."
Dämpfer für Bemühungen um Waffenruhe
Wegen des Angriffs in Rafah setzte die Hamas ihre Teilnahme an den Verhandlungen über eine Waffenruhe vorerst aus. Dies teilten Hamas-Repräsentanten der dpa mit. Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Islamistenorganisation, bei denen Ägypten, Katar und die USA als Vermittler agieren, waren zuletzt nach mehrtägigen Gesprächen in Kairo und Doha in eine Sackgasse geraten.
Medienberichten zufolge sollten sie in dieser Woche "auf der Basis neuer Vorschläge" wiederaufgenommen werden. Israel warte auf weitere Informationen von den Vermittlern über die neuesten Positionen der Hamas, bevor es eine Entscheidung über die Entsendung eines eigenen Verhandlungsteams treffe, sagte ein israelischer Beamter der "Times of Israel" laut deren Bericht.
EU will Israel zu Treffen über Lage in Gaza auffordern
Die EU will unterdessen mit Israel im Rahmen eines formellen Treffens über die Situation im Gazastreifen sprechen. "Wir haben die notwendige Einstimmigkeit erzielt, um einen Assoziationsrat mit Israel zu fordern", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in Brüssel nach einem Treffen der Außenministerinnen und -Minister der Mitgliedstaaten.
Es solle um die Achtung der Menschenrechte gehen und darum, wie Israel die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) umsetzen wolle, sagte Borell. Seit der Verkündung der Entscheidung sei nicht die Einstellung der militärischen Aktivitäten zu beobachten, sondern "im Gegenteil: eine Zunahme der militärischen Aktivitäten, eine Zunahme der Bombardierungen und eine Zunahme der Opfer unter der Zivilbevölkerung".
Der IGH hatte Israel dazu verpflichtet, den Einsatz in Rafah unverzüglich zu beenden. Es dürften keine Lebensbedingungen geschaffen werden, "die zur vollständigen oder teilweisen Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza führen könnten", hieß es im Richterspruch. Das Weltgericht ordnete aber keine Waffenruhe für Gaza an. Seine Entscheidungen sind bindend. Allerdings haben die UN-Richter keine Mittel, um einen Staat zur Umsetzung zu zwingen.
Was heute wichtig wird
Einige Stunden nach Norwegen wollen auch Irland und Spanien einen palästinensischen Staat anerkennen. Die Entscheidung Norwegens zur Anerkennung Palästinas als Staat trat bereits um Mitternacht in Kraft. Die drei Länder erhoffen sich dadurch einen Impuls für die sogenannte Zweistaatenlösung. Damit ist ein unabhängiger palästinensischer Staat gemeint, der friedlich Seite an Seite mit Israel existiert. Israels Regierungschef Netanjahu wie auch die Terrororganisation Hamas, die Israels Existenzrecht verneint, lehnen eine Zweistaatenlösung jedoch ab.
Ob die Sitzung des Weltsicherheitsrats öffentlich oder hinter verschlossenen Türen abgehalten wird, ist noch unklar. Letzteres schien einer Diplomatin zufolge wahrscheinlicher.