Kommentar: 85 Jahre nach Pogromnacht - wie sieht es heute in Deutschland aus?

Heute vor 85 Jahren nahm mit der Reichspogromnacht Judenfeindschaft in Deutschland einen ersten öffentlichen Höhepunkt. Und auch heute markieren Davidsterne Wohnhäuser, haben Geschäftsinhaber Angst. Dagegen hilft nur ein einladender Blick aufs eigene Herz.

Ein Berliner Polizeiwagen sichert im Oktober eine Straße, wo zwei Molotowcocktails auf ein jüdisches Gemeindezentrum geworfen wurden
Ein Berliner Polizeiwagen sichert im Oktober eine Straße, wo zwei Molotowcocktails auf ein jüdisches Gemeindezentrum geworfen wurden

Ein Kommentar von Jan Rübel

Klar, antisemitische "Israel-Kritiker" von heute sind nicht die Nazis von gestern. Also, nicht automatisch. Für unsere hausbackenen Nazis sorgen wir schon selber. Nur reibt man sich dieser Tage schon die Augen: Dieses verdammt Aggressive gegenüber Juden, nur weil sie Menschen sind, ist durch Gedenkveranstaltungen und Pressemitteilungen der vergangenen Jahrzehnte nicht verschwunden. Jener fiese Mangel an Menschlichkeit ist immer noch Teil unseres Landes.

Vor genau 85 Jahren trieben die damals Deutschland Regierenden diesen Antisemitismus voran. Sie planten öffentliches "Aufbegehren" gegen Mitbürger: Wegen einer Menge Märchen, die man ihnen angedichtet hatte. Der über viele Generationen hinweg genährte Vorbehalt gegenüber Juden schlug in praktizierten Hass um, als Wohnungen, Geschäfte und Synagogen gestürmt wurden, Menschen verprügelt wurden, manche von ihnen bis zum Tode. Hunderte starben, von ihren Mitmenschen als "Opfer" ausgemacht, mit denen man es machen könne. Besitztümer wurden gestohlen. Es war einfach nur niedrig.

Gerade weil Feindschaft gegenüber Juden so absurd ist, hält sie sich hartnäckig. Ablehnung von Braunhaarigen oder Linkshändern ergäben ähnlichen Sinn, nur traf es eben Juden.

Liegt es an dieser tief in uns gemachten Erfahrung, in der Erinnerung, dass es heute nicht die Solidarität mit Juden gibt, die sie kriegen müssten?

Wie ist es heute?

Heute checken Juden die Mauern ihrer Wohnhäuser, bevor sie eintreten – es könnte in der Zwischenzeit ein Davidstern aufgemalt sein, wie ein bös gemeinter Stempel. Kurz nach den Massakern der Hamas in Israel, die eine globale Welle von Antisemitismus hervorrufen sollten, war ich in einem jüdischen Geschäft und konnte den Mut und den Grimm des Inhabers kaum ertragen. Er hatte am so genannten "Tag es Zorns", zu dem die Hamas aufgerufen hatte, geöffnet. Polizeischutz hatte er erfolglos erbeten, die Beamten waren an vielen Orten der Stadt zum Schutz von Juden im Einsatz und überfordert, sie beschieden, er sei ja Privatbusiness. Er ließ sich kaum etwas anmerken. Wirkte stolz. Aber da war eine Menge in ihm, über das er die Stirn runzeln musste. Seinen Alltag wollte er indes so wenig wie möglich davon beeindruckt wissen. Diese Größe machte mich stumm.

Heute werden die Kippa Tragende angemacht, und mehr. Demonstranten entblödeten sich nicht, vor einer Kaffeehauskette herumzupöbeln, weil sie angeblich im Besitz von Menschen liege, die jüdisch sind. Ob es stimmt: Egal. Es bleibt der böse Wunsch zum Markieren.

Und der Nahe Osten?

Und mit Gaza und mit den Palästinensern hat dies wenig zu tun. Denen hilft es nicht, wo ich einen Kaffee nicht trinke. Denn vollkommen unabhängig davon, was im Nahen Osten geschieht: Mit Juden in Deutschland hat das keinen Deut zu tun. Wer anderes behauptet, sollte in sich schauen.

Infografik: Wo Deutsche die Ursachen für Antisemitismus sehen | Statista
Infografik: Wo Deutsche die Ursachen für Antisemitismus sehen | Statista

Überhaupt lohnt sich sowas. Dann sieht man, was einen wirklich stört. Und was nun echt nicht. Wie könnte ein Jude einen stören? Warum dann nicht gleicher Respekt, gleiche Augenhöhe? Dann stellt sich das Mitgefühl von alleine ein, zum Beispiel für Menschen, die sich fragen, ob man sie in ihrer Bedrohung ernst nimmt. Da ist kein Platz für ein "ja, aber". Denn das führt nur weg, vor allem von Lösungen – dann verliert man sich in irgendwelchen Strukturen, die man meint ausgemacht zu haben; dabei sind es nur Überbauten, die das Herz verhärten. Die gängigen: angeblicher Einfluss aufs Weltgeschehen, finstere Verschwörungen, Geldgier und weiterer Kram.

Es ist ganz einfach, zwei Herzen in sich zu tragen. Es ist Platz für ein Einschreiten gegen Unrecht gegenüber allen Menschen, da braucht niemand gegen den anderen ausgespielt werden.

Weitere Kommentare und Hintergründe finden Sie hier: