Kommentar: Das Märchen vom Corona-Mainstream

So sehen die Corona-Einschränkungen in Berlin aus (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)
So sehen die Corona-Einschränkungen in Berlin aus (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)

Angeblich darf man die Einschränkungen nicht kritisieren. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Das zeigen Querfront-Spinner und ein verzweifelter FDP-Chef.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Vielleicht liegt nur eine Verwechslung vor. Die Atemschutzmasken, die wir nun tragen sollen, hält mancher für einen Maulkorb. Das kann daran liegen, dass auch die Optiker geschlossen haben und sich in der Coronakrise diverse Sehschwächen verschärft haben, jedenfalls ist die Hysterie, die an (sehr wenigen Orten) auftritt, bemerkenswert. Sie betrifft die unvermeidlichen Kryptofans, FDP-Politiker und andere, die recht needy ins Scheinwerferlicht drängen.

Die erste Fraktion versammelte sich am Samstagnachmittag an mehreren Orten, sie demonstrierten. Wofür oder wogegen, war nicht sofort erkennbar. Es war ein wenig komisch und irre zugleich. In Berlin trafen sich rund 500 von ihnen, viele hatten wahlweise ein Grundgesetz oder ein Handy in der Hand und filmten. Es sollte wohl ein Skandal in der Luft liegen, eine Dramatik, aber die entging mir. Ich sah nur gelangweilte Polizisten, die vielleicht auch nur kurz verschnauften – denn die Beamten haben ja gerade genug zu tun; nun mussten sie auch diese Spinner ertragen, was sie mit einer Gelassenheit ertrugen, als hätten sie vorher einen geraucht.

Ein kruder Mix

Während ich mich also fragte, was da andauernd gefilmt wird, tauchten Leute mit Trump-Shirts auf, dicht gefolgt von Leuten mit Assange-Shirts. Zuerst fragte ich mich, ob die einen die anderen vielleicht verfolgen, schließlich sind der Autokrat Donald Trump und der Whistlebloweraktivist Julian Assange nicht gerade beste Freunde – aber die Shirtträger gehörten zur selben Demo. Es war eine Querfront aus vielen rechten und einigen linken Verschwörungsliebhabern, die eines zu wittern meinten: dass, latürnich, eine Verschwörung in der Luft liege. Dass die Einschränkungen bei Bewegung und Versammlung, die wir gerade erleiden, nicht wegen Corona geschehen, sondern um heimlich eine Diktatur zu zimmern. Das war skurril. Einige Demonstranten schienen echt wütend und schrien die Polizisten an. Die schauten stumm geradeaus, und das Ganze wurde dann von den Handys gefilmt und sollte nach Drama aussehen, was es nicht tat.

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Dramatisch blöd fand ich, dass diese Protestierer keinerlei Sicherheitsabstand einhielten, sich gar nicht darum scherten, und ich dachte an die Omis, die gerade zum Supermarkt an diesen Freiheitshelden vorbei mussten.

Die Spitze dieses Auflaufs war, dass Einige mit einem roten V auf schwarzem Grund herumliefen, es handelt sich um „V wie Vendetta“ – ein echter Revolutionsfilm, den ich zufällig zu Beginn von #stayathome sah und sehr empfehlen kann: ein starkes Werk, welches in einer Dystopie zeigt, wie sich ein einzelner Mensch gegen eine faschistische Diktatur wendet; ein aktivistischer Film wie ein einziges Freiheitsdoping – der aber nichts mit den Realitäten auf den Straßen in Berlin Mitte zu tun hat. Dass die Tropfe dieser Demo sich auf „V wie Vendetta“ beriefen, nun: nice try.

Probleme, die man erst schaffen muss

Eine Vorbedingung für diesen Verschwörungskram ist natürlich das Märchen, es gebe gerade einen Mainstream, der Debatten über Sinn und Zweck der Einschränkungen unterdrückt. Die Diktatur muss ja erst herbei halluziniert werden, damit man sie bekämpfen kann. Und diese Schützenhilfe erhalten die Querfrontspinner von Leuten, mit denen sie nichts zu tun haben.

Da ist zum Beispiel FDP-Chef Christian Lindner, der in der „Bild“-Zeitung dazu aufruft, die Corona-Maßnahmen zu überdenken, was ja auch vernünftig ist: „Die Zweifel wachsen mit jedem Tag, ob alle Einschränkungen von Grundrechten noch verhältnismäßig sind.“ Sicherlich, wir alle sehnen uns nach einer Rückkehr zum Normalen. Die Einschränkungen sind drastisch, obwohl längst nicht so strikt wie in Italien oder Frankreich. Aber immerhin. Doch dann springt Lindner los. Er betrachte mit Sorge, diktierte der Chef-Liberale der Zeitung mit Denkerstirn, dass sich die öffentliche Kritik nicht auf die „Einschränker der Freiheit“, sondern auf die „Zweifler und Öffnungsbefürworter“ konzentriert.

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Woher er das nimmt, erschließt sich mir nicht. Belege sucht man dann bei Lindner vergebens. Dabei sind die Medien voll mit Diskussionen über den „Lockdown“ oder den „Shutdown“, es ist DAS Gesprächsthema; eine „öffentliche Kritik“ erkenne ich ebenso wenig wie einen Fokus einer Schelte auf einen Zweifler. Halt: Verschwörungsfans präsentieren sich gern als Zweifler. Nicht jeder, der zweifelt, hat indes eine Denkerstirn.

Jetzt wird’s individuell

Da ist, ein weiteres Beispiel, die Autorin Susanne Gaschke, sie ist unheimlich kritisch und individuell unterwegs, sie diagnostiziert in einem Gastkommentar für die „Neue Zürcher Zeitung“: „Gerade die Deutschen gefallen sich in 150-prozentigem Corona-Gehorsam“. Gaschke ist natürlich nicht gehorsam, sie hat den Durchblick. Daher schreibt sie: „Wer auch nur die Frage andeutet, ob die Stilllegung des gesamten öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens angemessen und tatsächlich so alternativlos sei, wie es die deutsche Bundesregierung, ihr Robert-Koch-Institut und der staatstragende Teil der deutschen Medien darstellten, macht sich bereits verdächtig. Schon ist das Etikett des ‚Corona-Leugners‘ im Umlauf.“

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Ich habe gesucht und gesucht, aber das Etikett fand ich nicht. Aber vielleicht bin ich „staatstragender“ Teil der deutschen Medien, ohne es zu wissen. Bei Gaschke jedenfalls geht es dramatisch zu: „Die Debatte über den richtigen Umgang mit dem Virus spaltet unsere Gesellschaft brutaler, als die Flüchtlingsfrage es je vermochte. Freunde reden nicht mehr miteinander.“ Überflüssig zu erwähnen, dass Gaschke für ihre steile These wie Lindner keine Belege nennt. Über die „Flüchtlingsfrage“ wurde nun erbittert diskutiert, da gab es auch Spaltungen quer durch Familien. Aber wegen dem Umgang mit Corona?

Kann es sein, dass Mancher gerade Aufmerksamkeit sucht und sich dafür Provokantes ausdenkt? Darf man machen, es herrscht ja Meinungsfreiheit, wir leben schließlich in keinem System wie bei „V wie Vendetta“. Aber zum Schmunzeln ist es schon. Also schönen Gruß vom Mainstream.

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