Kommentar: Erdogans Besuch und die ganze Verlogenheit

Recep Tayyip Erdogan bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung. (Bild: Richard Drew/AP/dpa)
Recep Tayyip Erdogan bei der Generaldebatte der UN-Vollversammlung. (Bild: Richard Drew/AP/dpa)

Der türkische Präsident kommt nach Deutschland und wird gefeiert. Er ist ja auch kein Haustürke, gell?

Ein Kommentar von Jan Rübel

In Berlin ist heute einiges los. Da werden Straßen abgeriegelt und Autos weiträumig umgeleitet, und in der Nähe “sensitiver” Orte dürfen keine Fenster geöffnet werden. Warum? Der Sultan ist los.

Nun ist Recep Tayyip Erdogan keine lichtscheue Gestalt, er mag den großen Auftritt. Auch Fotos mit ihm geht er selten aus dem Weg. Aber vielleicht bleiben die Fenster geschlossen, um nicht versehentlich mit dem türkischen Präsidenten abgelichtet zu werden? Man weiß ja, wie sowas für manchen endete, erinnert sei an den Monat Mai und die Fußballer İlkay Gündoğan sowie Mesut Özil. Die begingen den verhängnisvollen Fehler mit dem Sultansfoto, beziehungsweise: Damals ahnten sie nicht, welche Wogen das schlagen konnte, hatte sich doch Lothar Matthäus mit Viktor Orban dokumentieren lassen, Franz Beckenbauer allein funktionärsbedingt mit Schurken aus aller Welt zelebriert und auf der Website des DFB lässt sich immer noch der offene Dankesbrief Julian Draxlers nachlesen, den er 2017 zum Ende des Confed-Cup an die russischen Fans verfasste: “Wir haben die Tage an der Schwarzmeerküste genießen können. Es schien immer die Sonne.” Und: “Was wir erleben durften, hat uns begeistert.” Präsident Wladimir Putin, dieser lupenreine Demokrat von Gerhard Schröders Gnaden wird es gefreut haben; es ist ja nicht so, dass Politik noch nie versucht hätte, sich durch den Sport in ein besseres Licht zu stellen.

Ein Foto, das Deutschland immer noch spaltet: Erdogan und der Ex-Nationalspieler Mesut Özil. (Bild: Pool Presdential Press Service/AP/dpa)
Ein Foto, das Deutschland immer noch spaltet: Erdogan und der Ex-Nationalspieler Mesut Özil. (Bild: Pool Presdential Press Service/AP/dpa)

Immer hübsch kaspern!

Doch Gündoğan und Özil hatten vergessen: Für sie gilt ein anderes Maß. Bei nicht wenigen in Deutschland ist immer noch nicht eingesickert, dass man ein Heimatgefühl verdoppeln kann, sich zwei Ländern verbunden fühlen kann. Das ist ein echter Reichtum. Aber leider auch ein offenes Scheunentor für wohlfeile Kritiker, die es dann “nicht ok” finden, wenn einem Diktator, wie Erdogan es ist, mit einem Foto gehuldigt wird. Denn Haustürken müssen auf das Grundgesetz schwören, während den Teutonen in zehnter Generation niemand fragt, ob er denn ein Loyalitätsproblem verspüre.

Wie fühlt sich Özil eigentlich dieser Tage, wenn er die Zeitungen aufschlägt und verfolgen kann, wer alles sich heute mit Erdogan auf einem Foto gezeigt haben wird. Ein Staatsbankett! Mit allem Pipapo, da lässt sich Schloss Bellevue nicht lumpen. Gelinde formuliert, muss sich Özil verhohnepipelt fühlen.

Jemand wie Reinhard Grindel ist tatsächlich immer noch im Amt, das ist eine reife Leistung. Und Oliver Bierhoff, der im Chor mit Grindel plötzlich nach der WM gegen Özil zu treten begann, auch. Özil wurde zum Sündenbock einer verkorksten WM-Leistung. Er wurde im Stadion von deutschen Fans rassistisch beschimpft – und der DFB unternahm nichts. Er spielte besser als die meisten anderen deutschen Kameraden – und dennoch zierten die Zeitungen nach den verheerenden Niederlagen sein trauriges Konterfei. Özil = Pechmarie, das war die Botschaft. Özil zog die bekannte Reißleine, und Jogi Löw, der anscheinend immer noch erfolglos den Kontakt zu Özil sucht, hat immer noch nicht begriffen, was eigentlich Özil derart verletzt hat, als er sagte: “Normalerweise war es in der Vergangenheit immer so: Wenn Spieler zurücktreten, wenn sie Probleme haben, dann gab es immer sehr gute Gespräche. Mesut hat sich für einen anderen Weg entschieden.”

Lieber Herr Löw, welcher Spieler unter Ihnen trat denn zurück, weil er rassistische Erfahrungen und fehlenden Rückhalt erfahren hat? Ist sowas ähnlich schmerzhaft wie die Auswechslung in der 48. Minute durch Daddy Jogi?

Toll wäre, wenn Grindel am Staatsbankett teilnähme und Erdogan ein Trikot schenkte, vielleicht von Eintracht Frankfurt. Deren Fans scheint er besonders zu mögen. Der Staatsbesuch Erdogans setzt einen Schlusspunkt unter Scheinheiligkeit, Verlogenheit und Heuchelei. Das nur fürs Protokoll.

Reden hilft

Ansonsten sollte das Treffen für wichtige Gespräche genutzt werden. Es gibt viele gute Menschen, die wegen ihres untadeligen Verhaltens in türkischen Gefängnissen einsitzen müssen. Da sollten ein paar Namen ausgetauscht werden. Beim Präsidenten könnte auch höflich nachgefragt werden, warum er oft, wenn er einen an seiner Meinung teilhaben lässt, dies “im Namen des türkischen Volkes” tut, als wäre seine persönliche Haltung nicht gewichtig genug. Auch über die Rolle der Religionsanstalt DITIB könnte verhandelt werden – die unterhält viele Moscheen in Deutschland und spielte gerade für die ersten Generationen der Türken eine wichtige Rolle in der sozialen Betreuung, sie füllte ein Vakuum, welches der deutsche Staat ganz unverschämt schuf; nun aber entwickelt sich diese der türkischen Regierung unterstellte Anstalt zum Erdogan-Fanclub mit durchaus spalterischen Tendenzen, was zum Beispiel dazu führte, dass die Kölner Stadtregierung bei den Planungen zur Einweihung einer neuen Moschee, bei der auch Erdogan sprechen soll, so gut wie nicht einbezogen wurde und nun ihre Teilnahme an der Feier absagte.

Es gibt viel zu bereden. Und macht bitte schön viel Fotos. Kann nicht schaden. Jetzt nicht mehr.

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