Kommentar: Nahost-Verirrungen - Halbwahrheiten über Israel und Gaza

Reporter Tobias Huch berichtet für Yahoo aus Israel über den Nahost-Konflikt. Hier nimmt er Stellung zu einem Kommentar aus dem "Tagesspiegel", der mehr Verständnis für die palästinensische Seite einfordert.

Ein Demonstrant in Washington hält ein Schild mit der Aufschrift:
Ein Demonstrant in Washington hält ein Schild mit der Aufschrift: "Habt ihr die Memo nicht bekommen? Juden wehren sich jetzt." (Bild: REUTERS/Leah Millis)

Die Syrien-Expertin Kristin Helberg hat am Sonntag als Autorin im „Tagesspiegel” einen Gastbeitrag veröffentlicht, den ich in dieser Form keinesfalls unwidersprochen lassen möchte. Frau Helberg fordert darin "mehr Weitsicht im Nahostkonflikt" und erklärt, dass dieser unsere Gesellschaft nicht zerreißen müsse."Mehr Weitsicht" - vordergründig klingt das vernünftig. Auch ich wünsche mir mehr Weitsicht. Aber ich verstehe darunter etwas völlig anderes als Frau Helberg. Denn Weitsicht setzt voraus, das Gesamtbild zu überblicken – und sich zunächst einmal über die Fakten ehrlich zu machen, statt sie auszublenden. Leider scheitert Kristin Helberg an einigen Stellen bereits daran: Gleich im ersten Absatz ihres Artikels stellt sie die Behauptung auf, eine hiesige "Elite" stünde "geschlossen hinter Israel und seiner Kriegsführung". Dass dem gerade nicht so ist, lässt sich schon an der Dimension der finanziellen Hilfspakete erkennen, die das Auswärtige Amt für die arabischen Palästinenser schnürt; keine Sachleistungen wohlgemerkt, wie sie die arabischen Bruderländer Ägypten oder Jordanien aus wohlbegründetem Misstrauen gewähren, sondern natürlich: bares deutsches Steuergeld.

Israels Recht auf Selbstverteidigung

Über 160 Millionen Euro sind es bis jetzt, dank Baerbocks Aufstockungszusage in Ramallah, die fließen sollen; Geld, von dem man blauäugig hofft, dass es nicht wieder in den Händen der Hamas und extremistischer Organisationen landet – so wie wohl ein Großteil der 8,5 Milliarden an EU-Hilfszahlungen in den letzten 30 Jahren. Diese Unsummen für eine dubiose, hochkorrupte und für ihre Veruntreuung von Hilfsgeldern geradezu legendäre palästinensische Führung sind ein Schlag ins Gesicht der Menschen in Israel. Vor dem Hintergrund solcher als "humanitär" deklarierten Zahlungen an Israels Todfeinde ist die Unterstellung, eine politische "Elite" würde hinter Israel stehen, nicht nur absurd; sie ist auch gefährlich - klingt sie doch ungut nach uralten Verschwörungsmythen. Bei Rechten würde man von "antisemitischen Chiffren" sprechen.

Helberg lässt ferner durchscheinen, dass sie offenbar Probleme mit Israels Recht auf Selbstverteidigung hat. Ihre Verkürzung der Hamas-Schuld auf den "grauenvollen Terrorangriff" vom 7. Oktober als ein punktuelles Ereignis greift hier allerdings zu kurz: Wie leider ein Großteil unserer Medien, die über Israels angeblich unverhältnismäßigen Gegenschlag detailversessen berichten, unterschlägt auch Helberg, dass allein seit dem 7. Oktober über 11.000 Raketen durch die Hamas und ihre Partner auf Israel abgefeuert wurden (Quelle: IDF & "Red Alert App"); 11.000 Raketen, von denen etwa 9.000 Stück im israelischen Luftraum niedergingen (wo sie glücklicherweise großteils vom Iron Dome abgefangen werden) - aber über 2.000 auf die Zivilbevölkerung in Gaza einprasselten und dort Frauen, Kinder, Zivilisten heimtückisch töten.

Das Schutzschild
Das Schutzschild "Iron Dome" fängt über Israel täglich hunderte Raketen ab. (Bild: REUTERS/Amir Cohen)

Und täglich werden es mehr; eigene palästinensische Mitbürger wohlgemerkt, die die Hamas schamlos für ihre Propaganda instrumentalisiert und zu Opfern eines angeblichen israelischen "Völkermordes" umetikettiert. Diese Menschen sterben – anders als bei den Angriffen der israelischen Streitkräfte üblich - ohne jede Vorwarnung und ohne zuvor sichergestellte Fluchtkorridore. Auf sie regnet ein bösartiger Tod nieder, verursacht von den Schergen der Hamas, die sich um die Schonung ihrer eigenen Zivilbevölkerung weniger scheren als die israelische Armee.

Fakten statt Hamas-Propaganda

Kristin Helberg will davon nichts wissen. Sie spricht vielmehr von den "10.000 Toten in Gaza"; angeblich zwei Drittel davon seien Frauen und Kinder. Woher sie diese statistischen Angaben hat, bleibt ihr Geheimnis: Nur die Hamas gibt aktuell Zahlen heraus, und diese sind mehr als zweifelhaft, wie man am Beispiel des al-Ahli-Arab-Hospitals sehen konnte: Aus "mindestens 500 Toten" wurde da nach wenigen Tagen (laut europäischen Geheimdienst-Kreisen) eine niedrige zweistellige Zahl und aus der angeblich gezielt ins Krankenhaus geschossenen israelischen Rakete wurde ein fehlgeleitetes Geschoss der Hamas-Partnerorganisation "Islamischer Dschihad" auf dem Krankenhausparkplatz.

Wie viele tote Frauen und Kinder die genannten 2.000 Hamas-Raketenirrläufer verursacht haben, die in Gaza-Stadt niedergingen, erwähnt Frau Helberg nicht, und auch nicht, wie viele Terroristen unter den Opfern waren. Natürlich sind aktuelle Angaben zu Opferzahlen in chaotischen Kriegssituationen bezüglich aller Seiten schwer überprüfbar. Legt man aber ältere Zahlen zugrunde, die weitaus zuverlässiger waren, so entfallen in etwa 50 Prozent der Toten auf eindeutig aktive Kämpfer der Terrorgruppen. Helberg fordert: "Es ist höchste Zeit, durch den Konflikt mit einem Kompass der Menschlichkeit zu navigieren." Ich möchte entgegnen: Es ist höchste Zeit, sich endlich mit Fakten zu befassen, statt weiter der Hamas-Propaganda auf den Leim zu gehen!

Viele kommen mit dem Bild des sich wehrenden Juden nicht klar

Die Fragen nach "Verhältnismäßigkeit" ist nicht nur relativierend, sondern unverschämt. Sie beleidigt die Opfer der Hamas auf beiden Seiten. In einem jedoch möchte ich Frau Helberg uneingeschränkt Recht geben: Wir müssen mehr differenzieren, und wir brauchen "mehr Empathie und Ausgewogenheit". In der Tat! Diese haben bisher gefehlt - und ich bin der festen Überzeugung, dass dies daran lag, dass allzu viele Menschen mit dem Bild des Juden, der sich wehrt, nicht klarkommen. Mir scheint, dass es viele als geradezu unverschämt empfinden, wenn sich "der Jude" nicht mehr ins Ghetto pferchen und vernichten lässt, sondern kämpft. Das verstört so manchen: Offenbar wird von Juden erwartet, dass sie stets nur wehrlose Opfer bleiben. Einmal ermordet, werden sie zwar bombastisch betrauert; doch wehe, heute lebende Juden lehnen sich gegen ihre Mörder auf und verteidigen sich mit Waffengewalt.

Wir müssen auch endlich mit dem "woken" Unsinn der kritischen Rassentheorie aufräumen, der den blühenden Blödsinn verbreitet, hinter Israel verberge sich ein "koloniales Projekt". Die Verbrechen der Hamas sind – wie Frau Helberg richtig feststellt - "kein antikolonialer Widerstand". Wenn schon, dann ist Israel ein antikoloniales Projekt par excellence: Denn den Menschen, denen das Land einst geraubt wurde, wurde es rechtmäßig wiedergegeben.

Leider ist Helbergs Artikel damit noch nicht zu Ende: So ist ihre Behauptung, das "Abriegeln von Gaza mit 2,3 Millionen Zivilisten" sei "keine Selbstverteidigung, sondern völkerrechtswidrig", eine schlichtweg falsche Unterstellung. Vielleicht ist es ihr nicht aufgefallen, aber Gaza grenzt nicht nur an Israel. Es teilt sich auch eine Grenze mit Ägypten, der Heimat von Jassir Arafat. Eine Landesgrenze zu schließen, nachdem Horden von Terroristen diese durchbrochen haben, Menschen gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt, lebendig verbrannt und ermordet haben, ist kein Verbrechen. Die Grenze zu schließen, über die die Monster kamen, die Babys lebendig verbrannt und Menschen lebendig geköpft haben, ist aus meiner Sicht eine in jeder Hinsicht legitime Maßnahme.

Pro-palästinensische Demonstration in Berlin am 10. November. (Bild: REUTERS/Liesa Johannssen)
Pro-palästinensische Demonstration in Berlin am 10. November. (Bild: REUTERS/Liesa Johannssen)

"Wer eine Waffenruhe fordert, palästinensische Flaggen schwenkt und ‚Free Palestine‘ ruft, ist nicht automatisch ein Antisemit oder Hamas-Anhänger”, schreibt Frau Helberg. Das stimmt. Es sind zwar durchaus viele Antisemiten und Hamas-Anhänger darunter, aber es gibt sicher auch nur Dummköpfe ohne geschichtliches Hintergrundwissen. Oder Menschen, die ihre infantile Naivität immer noch nicht abgelegt haben. Im weiteren Artikel werden Helbergs Einlassungen noch unerträglicher. Sie fordert, dass wir "zurückfinden zu einer Position, die den Menschen in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handels stellt". Das klingt auf den ersten Eindruck wundervoll, verschleiert aber das Problem, dass im Mittelpunkt unseres Denkens unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung und unsere aufgeklärten Werte stehen müssen. Hier darf es keinen Mittelweg, keine Kompromisse geben. Wenn es bei deren Verteidigung zu gesellschaftlichen Verwerfungen kommen sollte, dann ist das in Kauf zu nehmen; da müssen wir durch. Toleranz gegenüber Intoleranz ist immer eine grenzenlose Dummheit.

Deutschland zieht garantiert keinen Schlussstrich

Wir brauchen daher auch nicht unsere Staatsräson gegenüber Israel zu ändern oder an unserer "Holocaust-Erinnerungskultur" zu arbeiten. Deutschland zieht garantiert keinen Schlussstrich, nur weil manche den Juden bis heute den Holocaust nicht verzeihen mögen. Da kann sich Frau Helberg auch ihre Schreckensszenarien sparen, in denen deutsche Soldaten für Israel ihr Leben lassen könnten – eine Haltung, hinter dem sich der Wunsch nach politischer Abwendung von Israel zu verbergen scheint. Vor demselben Hintergrund müssen wir auch nicht die - eigentlich schon am Ende befindliche - Netanjahu-Regierung kritisieren. Denn Kritik an dieser gab und gibt es reichlich; man muss sie nun nicht erneut aufwärmen, um Ausgewogenheit vorzugaukeln.

Frau Helberg vergisst, dass Jerusalem und Tel Aviv nicht Gaza-Stadt sind. Israel ist eine lebendige Demokratie. Und deshalb benötigt Israel aus Deutschland auch ganz sicher keine Nachhilfe bei seiner umstrittenen Justizreform; dafür gingen schon Millionen Israelis auf die Straße. Und auch Verbrechen einzelner radikaler Siedler im Westjordanland, die dafür erst kürzlich von besagtem Benjamin Netanjahu eine Kampfansage kassierten, machen die Verbrechen der Hamas und die täglichen hunderten Raketen nicht zu einer Widerstandshandlung. Der Hamas geht es nicht um irgendwelche Siedler oder die Justizreform, auch nicht um eine „Zweistaatenlösung“ oder einen friedlichen Ausgleich mit Israel. Die Hamas fordert die Vollendung des Holocausts in Israel und am Ende in der ganzen Welt im Sinne von "From the River to the Sea, in die Gaskammer, weg sind sie." Das zu erkennen fällt für mich ebenfalls unter "sich endlich ehrlich machen" und zu jener "Weitsicht", die Frau Helberg einfordert.

Für sie ist es weltfremd, dass sich arabische Palästinenser, die in der dritten Generation hier in Deutschland leben, zum Staat Israel bekennen, weil es vor 85 Jahren "Leid in der eigenen Familie" gab - durch die damalige Aufteilung des britischen Mandatsgebiets auf Araber (75 Prozent) und Juden (25 Prozent) gab. Ich selbst frage mich - als nach palästinensischer und UN-Definition dann ebenfalls von "Vertreibung" Betroffener - wieso ich eigentlich niemals Hass gegen Russen und Polen entwickelt habe, obwohl doch Teile meiner Familie am Ende des Krieges aus ihrer Heimat in Westpreußen und Pommern vertrieben wurden? Warum veranstalten Millionen Deutsche wie ich keine Anti-Russland-Demos? Warum fordern wir nicht den Widerruf der Anerkennung Polens als souveräner Staat? Warum feuern wir nicht zehntausende Kassam-Raketen auf Warschau?

Liegt es vielleicht daran, dass wir uns mit Realitäten abgefunden haben, dass wir nach vorne blicken können, dass wir eine Bildung genossen haben? Dass Menschen wie ich die geschichtlichen Fakten kennen und zu Selbstkritik und Versöhnung fähig sind? Dass sich meine Familie, anstatt Hass zu verbreiten, lieber ein neues Leben in Nachkriegsdeutschland aufgebaut hat? Ich will mir keine Antwort anmaßen; aber ich denke, dies kann jeder für sich selbst beantworten. Über ein Drittel der heutigen Deutschen wären nach der Definition, die für palästinensische Araber gilt, "Vertriebene" mit privilegiertem "Vertriebenenstatus"; ein Status, der einen in eine Rolle zwingt, die einem jede Selbstständigkeit, Eigenverantwortung und potenzielle Zukunft raubt.

Klare Ansagen statt Beschwichtigung

Frau Helberg führt in ihrem Gastbeitrag aus: "Unser Umgang mit Israel", unser fehlendes Einfühlungsvermögen führten dazu, behauptet sie, dass sich "Deutsch-Palästinenser… ohnmächtig und nicht gesehen" fühlen. Selbst wenn dies so wäre, führt das nicht zu einer Rechtfertigung, dass zu Hass erzogene Menschen Synagogen anzünden und Juden auf offener Straße jagen.

Frau Helberg täte gut daran, ein paar Worte mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zu wechseln, sich die Rolle der Familie, der Imame in den Moscheen und der sozialen Netzwerke (wie TikTok) bei einigen hier lebenden arabischstämmigen Mitbürgern anzusehen. Sie würde dann recht schnell erkennen, dass nicht unsere Gesellschaft das Problem ist, sondern die Sozialisation von Menschen mit extremistischen Neigungen innerhalb ihrer Parallel- gar Gegengesellschaften. Wenn, dann müssten eher wir klare Ansagen an diese Generation machen, statt uns mit Beschwichtigungen lächerlich zu machen.

Kristin Helberg wünscht sich eine andere deutsche Außenpolitik: Weniger Rücksichtnahme auf die Interessen Israels, dafür eher mehr eine Position, die im Einklang mit dem aus meiner Sicht oft antisemitisch agierenden UN-Menschenrechtsrat steht; auf einer Linie also mit Staaten wie Katar, Syrien, dem Iran und anderen faschistischen Regimen, die ihre Menschenfeindlichkeit jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellen. Das wäre das Verkehrteste und Verwerflichste, was Deutschland tun könnte.

Die Enthaltung der Bundesregierung bei der Forderung der UN-Vollversammlung nach einer – einseitigen - Waffenruhe Israels (die in Wahrheit allein dem Zweck einer faktischen militärischen Neuformierung der Hamas dienen sollte), muss als abschreckendes Beispiel dafür gewertet werden, dass sich Deutschland in Wahrheit viel zu wenig und nicht eindeutig genug zu Israel bekennt. Ein klares und deutliches Nein wäre hier das einzig richtige Zeichen gewesen; eine Enthaltung ist genauso erbärmlich und menschenverachtend wie ein Ja. Denn diese Resolution verhöhnt die Ermordeten des 7. Oktobers in unverschämter Form, indem sie indirekt Israel für dieses Pogrom verantwortlich macht. Die Juden müssen eben an allem schuld sein. Auch an ihrer eigenen Vernichtung.

Im Video: Die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens wird "entmenschlicht", sagt der UN-Kommissar