Nagelsmann im Dilemma - Ganz Deutschland fordert Füllkrug, doch das ist nicht die beste Idee
Sollte Niclas Füllkrug im Achtelfinale der EM in der Startelf stehen? Der Stürmer hat sich den Einsatz redlich verdient und wird von den Fans gefordert. Warum die Leute aber auch Kai Havertz nicht abschreiben sollten und Füllkrugs derzeitige Rolle so enorm wichtig ist.
Das Narrativ eines Fußballspiels ist ein launisches Biest. Kleinigkeiten, winzige Augenblicke, Millimeterentscheidungen bestimmten das, was über Spiele erzählt wird. In die eine wie in die andere Richtung. Leid und Freud, Sieg und Niederlage, Held und tragischer Held, es liegt alles so denkbar nah beieinander, und dennoch beeinflusst es ganz stark unsere Wahrnehmung, die offenbar nur in Schwarz und Weiß sieht.
Dieses Phänomen ist bei der Nationalmannschaft besonders stark ausgeprägt. Daher ist das Narrativ nach dem letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz (1:1) auch relativ simpel: Niclas Füllkrug ist unser Held, er hat den Gruppensieg gerettet, das Frankfurter Stadion am Ende zum Beben gebracht.
DFB-Sturm: Füllkrug oder Havertz?
Das Füllkrug-Tor entfacht in Deutschland eine Debatte, die eigentlich gar keine ist. Füllkrug oder Kai Havertz? Die Fans sind sich einig. Laut einer „Bild“-Umfrage (unter 138.000 Menschen) sprachen sich 90 Prozent für Füllkrug aus.
„Niclas liefert Argumente dafür, von Anfang an zu spielen“, erkennt selbst Bundestrainer Julian Nagelsmann. Zwei EM-Tore in nur 73 Einsatzminuten. In 19 Länderspielen traf der 30-Jährige bereits 13 Mal. Im Schnitt trifft er alle 58 Minuten. Der Mann ist ein Torjäger mit Torriecher , so nennen Fußballer diesen gewissen Instinkt.
Füllkrug, der beste Joker
Füllkrug liefert aber auch Argumente dafür, „immer wieder von der Bank zu kommen“, findet Nagelsmann und offenbart damit sein persönliches Dilemma. Zwei Jokertore bei der EM, zwei Jokertore bei der WM in Katar.
Füllkrug ist der erste europäische Stürmer, der bei beiden Großturnieren auf insgesamt vier Tore als Einwechselspieler kommt.
Solche Qualitäten beeinflussen den Matchplan eines Trainers. Nagelsmann weiß, dass Füllkrug immer funktioniert und wenig Zeit benötigt, um sich in einem Spiel zu akklimatisieren. Zudem werden gerade die Fähigkeiten eines klassischen Strafraumstürmers in der Schlussphase eines Spiels immer wichtiger.
Entweder gibt es bei Führung genügend Räume, weil der Gegner nach vorne stürmt und viel Raum für Konter anbietet. Oder man agiert bei Rückstand selbst mutiger und aggressiver, schlägt also mehr hohe Bälle in den gegnerischen Strafraum.
„Wir sind sehr froh, einen klassischen Neuner auf der Bank zu haben“, sagt der Bundestrainer. Im DFB-Kader kann nur Füllkrug diese Rolle einnehmen.
Füllkrug stellt sich in die Dienste der Mannschaft
Füllkrug nimmt diese Rolle bisher an, ordnet sich dem Teamgeist unter. Als die Schweiz am Sonntag zur Führung traf, war er einer der ersten, der die Spieler von der Außenlinie aufmunterte und motivierte. Beim Gang in die Halbzeit wartete er am Katakomben-Eingang und klatschte jeden Spieler ab.
Zeitgleich schärft er den Konkurrenzkampf, drängt sich im Spiel und Training auf. „Jeder gibt im Training Vollgas, versucht sich anzubieten“, sagt Füllkrug. „Der Trainer hat sich bisher dreimal für die gleiche Elf entscheiden. Er hat das auch mit einem gewissen Hintergrund gemacht.“
Havertz hat auch seine Argumente
Der Hintergrund ist der, dass Nagelsmann zu Beginn eine höhere Flexibilität im Spiel haben will. Havertz ist ein spielstarker Neuner, mit dem es sich leicht kombinieren lässt. Besonders gegen die Schweiz fiel auf, wie oft sich der 25-Jährige zurückfallen ließ und die Positionen mit Musiala und Wirtz tauschte.
Das macht Havertz taktisch enorm wertvoll und setzt ihn von Füllkrug ab. Der Dortmunder so gut wie immer ganz vorne und ist spielerisch längst nicht auf dem Level von Havertz.
Der Angreifer vom FC Arsenal steht zu stark in der Kritik. Wie Füllkrug stellt auch er sich in die Dienste der Mannschaft, übernimmt defensive Laufarbeit und schafft vorne Räume für seine Kollegen.
Und Havertz ist torgefährlich. Zehn Abschlüsse hatte er bereits beim Turnier, einzig seine Effizienz lässt dabei zu wünschen übrig. In England klappte das vor der EM besser: Da stach er mit neun Tore aus den letzten 14 Premier-League-Spielen heraus.
Das Narrativ ist ein launisches Biest
Und da sind wir wieder beim Narrativ. Wie würden die Fans über Havertz sprechen, wäre sein merkwürdiges Kopfball-Schulter-Dingsbums in der 85. Minute nicht auf der Oberkante der Latte sondern im Tor gelandet? Was würden sie sagen, hätte Schiedsrichter Danielle Orsato einen der strittigen Zweikämpfe mit Havertz im Strafraum als Strafstoß gewertet?
Manchmal fehlen Millimeter, Kleinigkeiten eben. Nicht bei Füllkrug. Der wurde zum Matchwinner aus deutscher Sicht. Und zwar absolut verdient. Auch die Startelf-Forderungen und das Nagelsmann-Dilemma sind berechtigt.
Mit der Hereinnahme von Füllkrug würde sich aber die gesamte Dynamik in der deutschen Offensive verändern. Ist es das wert, den bestem besten Joker schon mit dem Anpfiff zu ziehen?
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