Neuwahlen in Frankreich - Wählen die Franzosen trotz allem rechts, steuert nicht nur Macron auf schwere Zeiten zu

Für Macron und Scholz kann sich durch die Neuwahlen in Frankreich einiges ändern.<span class="copyright">Michael Kappeler/dpa</span>
Für Macron und Scholz kann sich durch die Neuwahlen in Frankreich einiges ändern.Michael Kappeler/dpa

Die bevorstehenden Parlamentswahlen in Frankreich könnten das politische Gefüge im Lande und in Europa nachhaltig verändern. Landry Charrier, Experte für deutsch-französische Beziehungen, erklärt mögliche Szenarien.

In wenigen Tagen findet die erste Runde der Parlamentswahlen in Frankreich statt. Wo stehen wir?

Wenn der Ausdruck nicht historisch belastet wäre, würde ich von einem Sprung ins Dunkle sprechen. In den vergangenen Tagen hat Jordan Bardella die Pläne seiner Partei zwar an vielen Stellen deutlich zurückgeschraubt. Ein Wahlsieg des Rassemblement National hätte dennoch weitreichende Konsequenzen auf die Stabilität des Landes, seine Glaubwürdigkeit sowie Gestaltungskraft auf europäischer Ebene.

„Geben Sie sich nie mit dem Extremismus, dem Rassismus, dem Antisemitismus oder der Intoleranz ab! Der Extremismus hätte uns in unserer Geschichte schon fast an den Abgrund geführt. Er ist ein Gift!“, warnte Staatspräsident Jacques Chirac in seiner letzten Fernsehansprache am 9. Mai 2007. 17 Jahre später hat diese Warnung nichts an Aktualität verloren. Man könnte fast sagen: Sie ist schon Teil der Realität geworden. Eine Kollegin aus der Province erzählte mir neulich, in ihrem Dorf gingen sich die Leute aus dem Weg; man wisse nicht, wofür der andere stehe. Das Gift fängt schon an, zu wirken.

Der RN ist aber nur einer von drei potentiellen Wahlsiegern

Das ist richtig. Das Wahlsystem zur französischen Nationalversammlung ist kompliziert und macht es nicht gerade einfach, eine zuverlässige Prognose abzugeben. Auch wenn die Dynamik eindeutig beim RN liegt, warne ich davor, die anderen Blöcke – Mitte und Linke – schon jetzt abzuschreiben.

Der aus der Not geborene Nouveau Front Populaire erfreut sich einer immer größeren Beliebtheit und profitiert von der Unterstützung einiger hochrangiger Politik. So hat neulich der ehemalige Außen- und Premierminister Dominique de Villepin, bekannt gegeben, er werde sich dem „Alles, nur nicht Le Pen“ anschließen und im Zweifel für den Nouveau Front Populaire stimmen.

Der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, äußerte sich am Dienstag ähnlich. Von ihm hätte man allerdings eine klare Positionierung zum Wirtschaftsprogramm des Linksbündnisses erwarten können. Denn an dieser Stelle sind sich die meisten Analysten einig: Das größte Risikoszenario geht zurzeit vom schuldenbasierten Programm des Nouveau Front Populaire aus. Die Pläne des RN würden mindestens 100 Milliarden Euro kosten, jene der Linken „noch dreimal mehr“, empörte sich Emmanuel Macron vor wenigen Tagen. Das mag etwas übertrieben sein, gibt aber die Richtung an.

Letztes Wochenende hat der ehemalige Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon bekannt gegeben, im Falle eines Wahlsiegs des Nouveau Front Populaire sei er bereit, das Amt des Premierministers zu übernehmen. Wofür steht Mélenchon?

Der 72-jährige Mélenchon ist zwar „nur“ einer von vielen, die sich dazu berufen fühlen, in Matignon einzuziehen. Aufgrund seiner (wenn auch nicht unumstrittenen) Position innerhalb der Linken würde aber sein Name bei einem Wahlsieg ganz oben auf der Liste stehen. Die Ernennung des Scharfmachers zum Premierminister wäre keine gute Nachricht, weder für Deutschland noch für die EU. Seit vielen Jahren fährt Mélenchon einen stark ausgeprägten deutschfeindlichen Kurs: Sein „Maul zu, Frau Merkel“, das er 2014 getwittert hatte, nachdem die Bundeskanzlerin die Reformanstrengungen in Frankreich als unzureichend eingestuft hatte, ist zusammen mit seiner 2015 veröffentlichten Streitschrift „Bismarcks Hering. Das deutsche Gift“ stellvertretend dafür.

Vor Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine hatte er wiederholt gesagt, nicht Deutschland, sondern Russland sei „der natürliche Partner“ Frankreichs. Im Präsidentschaftswahlkampf 2022 sprach er sich zudem für einen Austritt aus der Nato aus: Er stehe für „ein bündnisfreies Frankreich“, das „von Fall zu Fall entscheiden müsse“, welche geopolitische Strategie richtig sei. Seine Reaktion auf das Militärprogrammgesetz 2024-2030 zeigte nochmal sehr deutlich: Er glaube nicht an den deutsch-französischen Motor. Das Wahlprogramm des Nouveau Front Populaire erwähnt zwar an keiner Stelle die Zukunft der bilateralen Beziehungen. So viel aber schon klar: Mélenchons Einzug in Matignon würde große deutsch-französische Turbulenzen verursachen.

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Und das Macron-Lager? Wer die französischen Medien liest und hört, könnte den Eindruck haben, Frankreich sei nunmehr ein Land ohne Mitte.

Wer durch das Land fährt – ich habe dies vor kurzem getan – trifft immer wieder auf Franzosen, die einen nahezu irrationalen Hass auf den Präsidenten, das Amt und seine Person, haben. Das Phänomen ist nicht neu. Bereits unter Nicolas Sarkozy hatte es sich in einer Bewegung – le „dégagisme“ – und in einem gerne wiederholten Satz – „casse-toi pauv’con“ („hau ab du Arsch“) – manifestiert.

Auch in der Amtszeit von Francois Hollande, von seinen (zahlreichen) Kritikern als „Flamby“ (eine französische Puddingart) apostrophiert, kam es immer wieder zutage: Die Franzosen waren ihn satt und wollten ihn am Ende nur loshaben. Macron profitierte davon und hievte sich mit 39 an die Macht. Nun scheint er selber Opfer dieses Phänomens geworden zu sein.

In einem Brief an die Franzosen, welcher am Montag in zahlreichen Regionalzeitungen erschien, schrieb er zu seiner Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen: „Ich hätte den Premierminister und die Regierung auswechseln können (...). Das wäre einfach für mich gewesen, aber es hätte kein Problem gelöst“. Nun sind aber heute viele davon überzeugt, er sei das Problem. Die Umfragen sehen zwar die Mitte bei ca. 21 Prozent, Tendenz steigend. Doch stellt sich die Frage, wie die Wähler bei so viel Hass reagieren werden, wenn in der zweiten Runde am 1. Juli zum Duell zwischen dem Macron-Lager und dem rechten oder linken Block.

Was steht in Macrons Brief an die Franzosen?

In diesem Brief bekräftigt Macron, sein Mandat bis zu dessen offiziellen Ende im Jahr 2027 ausfüllen zu wollen – auch im Falle einer Niederlage. Diese Klarstellung war wichtig, auch gegenüber Frankreichs Partnern. Gleichzeitig räumt er ein, dass sich die Art des Regierens nach der Wahl „grundlegend ändern“ müsse. Der Satz lässt aufhorchen. Bereits im Dezember 2018 hatte Macron als Reaktion auf die Gelbwesten-Proteste „tiefgreifende Veränderungen“ in Aussicht gestellt.

Im Kontext der Parlamentswahlen 2022 hatte er wieder einmal mehr Horizontalität versprochen und war damit dem Ruf der Franzosen nach einer Modernisierung des politischen Systems entgegengekommen: weniger Machtkonzentration, mehr Partizipation, in welcher Form auch immer.

Doch passiert ist seitdem viel zu wenig: Das Conseil des refondations, welches im September 2022 zu diesem Zweck gegründet wurde, konnte nie liefern: nicht zuletzt, weil die Gewerkschaften und die Opposition nicht bereit waren, sich auf das Experiment einzulassen. Auf einen Vorschlag des Präsidenten einzugehen, hätte vorausgesetzt, dass man kompromissbereit sei. Doch die politische Kultur Frankreichs lässt dies nicht zu. Sie kennt keinen Kompromiss, sie kennt nur Konflikte.

Welche Konsequenzen hätte ein Wahlsieg des RN oder Nouveau Front Populaire auf die EU?

Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass die großen Entscheidungen über die Zukunft der Union Führung erfordern. Sie zeigt auch, dass sie in den meisten Fällen von Deutschland und Frankreich ausgeübt wurde. Was, wenn das eine oder andere Land wegfällt? Spontan könnte man sagen: Je weniger Macron als europäische Führungsfigur wird agieren können, desto schneller wird Olaf Scholz in diese Rolle hineinwachsen müssen. Doch diese Rolle ist ihm zwei Nummern zu groß. Die kommenden Wahlen im Herbst 2024 und Spätsommer 2025 werden ihm zudem die Arbeit nicht leichter machen. Wir steuern auf schwere Zeiten zu.