Portugal wird 50 – Was bleibt von der Nelkenrevolution?
Portugal feiert 50 Jahre Demokratie. Freie Wahlen, Pressefreiheit, das Recht auf Bildung – all das waren die Errungenschaften der Nelkenrevolution. Doch heute steht Portugal vor großen Herausforderungen.
Die Sozialhistorikerin Raquel Varela verweist auf die Errungenschaften, vor allem in Bezug auf die Arbeitswelt, wo die Portugiesen und Portugiesinnen vielerlei Rechte einforderten, die es zuvor im Land nicht gegeben hatte. Varela hebt aber auch den Aufbau des nationalen Gesundheitsdienstes und des Bildungssystems hervor, die ihrer Meinung nach viele Jahre lang "qualitative Fortschritte" auf sozialer Ebene bedeuteten.
"Es geht nicht nur um Rechte, Freiheiten und Garantien, den Sozialstaat und Sicherheit und Schutz des Arbeitsplatzes. Denn viele dieser Dinge haben leider seit den späten 1980er Jahren Rückschritte gemacht. Was blieb, war die Erkenntnis, dass es möglich ist, anders zu leben."
Portugal geht es heute unbestritten besser als noch vor 50 Jahren. Doch wegen der geringen Produktivität der Wirtschaft und der schlechten Arbeitsbedingungen hinkt das Land im europäischen Vergleich hinterher.
Land kämpft gegen wirtschaftliche Probleme
Angaben von Eurostat zufolge liegt die Produktivität pro Arbeitnehmer um 28 Prozent unter dem Durchschnitt der Eurozone. Seit mindestens zehn Jahren ist Portugal das Schlusslicht der Produktivität im gemeinsamen Währungsraum. Innerhalb von sechs Jahren wurde es von allem drei baltischen Ländern überholt.
Für den Mitautorin des Buches "Breve História de Portugal" sind die Ursachen für die Probleme bei der Produktivität mit der Tatsache verbunden, dass das Kapital gegenüber der Arbeit bevorzugt wird. "Besonders seit dem 21. Jahrhundert haben sich die öffentlichen Dienstleistungen extrem verschlechtert, mit einer hohen Kapitalrendite durch Zinsen, also durch Kredite, Staatsverschuldung, die die Kapazität und die Produktionsfähigkeit des Landes zerstören und auch die öffentlichen Dienstleistungen untergraben wird", erklärt Varela.
Auch das Pro-Kopf-BIP des Landes liegt immer noch unter dem europäischen Durchschnitt. Eurostat-Schätzungen zufolge würde Portugal im Jahr 2023 auf Platz 18 der EU-Mitgliedsstaaten aufsteigen, zwei Plätze besser als im Vorjahr, und Polen und Estland überholen. Dennoch bleibt es 17 Prozent hinter dem EU-Durchschnitt zurück.
"Tatsächlich bleibt Portugal am Ende Westeuropas, das ärmste Land Westeuropas. Daher hat Portugal seine relative Situation, gemessen an der Rangfolge der Länder, nicht verbessert", sagt Nuno Palma, Wirtschaftshistoriker an der Universität Manchester. Portugal bleibe das ärmste Land und das Land, das hinsichtlich seines Humankapitals und des Bildungsniveaus seiner Bevölkerung am rückständigsten sei Es bleibe hinsichtlich der Funktionsweise politischer Institutionen "das Schlusslicht in Westeuropa".
Zuschüsse aus Brüssel wie "Pflaster oder Aspirin"
Nach fünf Jahrzehnten Demokratie und 38 Jahren Mitgliedschaft in der Europäischen Union muss das Land zwingend die Abhängigkeit von EU-Geldern überdenken. Denn eine EU-Erweiterung würde weniger zur Verfügung stehende Gelder bedeuten.
Diese Gelder führten dazu, dass die Bevölkerung nicht immer die Dringlichkeit von Veränderungen gespürt habe, sagt Palma. "Anstatt die Rettung des Landes zu sein, wie sie von politischen Akteuren oft gesehen und beschrieben werden – eine Panzerfaust, die das Land retten wird oder ein Geldregen – wirken sich diese Zuschüsse in Wahrheit negativ auf die portugiesische Wirtschaft aus. Insbesondere für den Teil der Wirtschaft, der dem internationalen Wettbewerb unterliegt, die sogenannten handelbaren Güter und den handelbaren Sektor der Wirtschaft.
Zudem habe es negative Auswirkungen auf den politischen Prozess, der in Portugal herrscht. Europäische Gelder "sind wie Pflaster oder Aspirin, die die Leiden der portugiesischen Gesellschaft und Wirtschaft verbergen".
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Portugal als "mangelhafte Demokratie"
Darüber hinaus wirft der Wirtschaftshistoriker den beiden großen demokratisch regierenden Parteien, der PS und der PSD, vor, nicht in der Lage gewesen zu sein, Reformen durchzuführen, um sich dem übrigen Europa anzunähern. Vor vier Jahren wurde Portugal zu einer "mangelhaften Demokratie" herabgestuft und hat es seither nicht geschafft, wieder den Status einer "vollen Demokratie" zu erreichen.
Im Demokratie-Index 2023, der von der Economist Intelligence Unit veröffentlicht wurde, liegt das Land auf Platz 31, drei Plätze ging es im Vergleich zum Vorjahr nach unten – das schlechteste Ergebnis seit 2013. Dieser Trend ist vor allem auf die Bewertung des Kriteriums "Funktionsweise der Regierung" zurückzuführen, bei dem das Land nur von 6,79 Punkte erhielt, ein deutlicher Rückgang gegenüber dem Vorjahr (7,5).
Portugal gilt neben Belgien und Italien eines von nur drei westeuropäischen Ländern, das als "mangelhafte Demokratie" eingestuft wird.