Procaccini: "Die nächste Europäische Kommission wird Mitte-Rechts sein"

Procaccini: "Die nächste Europäische Kommission wird Mitte-Rechts sein"

Bei den anstehenden Europawahlen könnte die Stunde der Konservativen und Reformisten (EKR) schlagen: Sie wollen das Gleichgewicht im neuen Europäischen Parlament verändern, in dem sie höchstwahrscheinlich mehr Abgeordnete stellen werden als im jetzigen. Die konservativen Parteien haben keinen Spitzenkandidaten gewählt, weil sie nicht an dieses System glauben. Sie wollen nicht mehr, dass ihre Länder aus der Europäischen Union austreten, sondern sie wollen sie radikal verändern. In Latina (Latium) haben wir den Ko-Vorsitzenden ihrer Fraktion getroffen, den Europaabgeordneten Nicola Procaccini von den Fratelli d'Italia, der uns in The Global Conversation erzählt, wie das gehen soll.

Sind die Europäischen Konservativen und Reformisten Euroskeptiker?

Euronews-Reporter Vincenzo Genovese: Vielen Dank für Ihr Kommen. Nicola Procaccini, Europaabgeordneter der Fratelli d'Italia, Kandidat bei den nächsten Europawahlen und Ko-Vorsitzender der EKR-Fraktion. Wir treffen uns in einem wunderschönen Museum, das dem 20. Jahrhundert gewidmet ist, aber wir sprechen über die Zukunft Europas. Welche Vision haben die Europäischen Konservativen und Reformisten von Europa? Ist es richtig, sie Euroskeptiker zu nennen?

Nicola Procaccini: Nein, das ist völlig falsch. Wir sind diejenigen, die zur ursprünglichen Idee der Europäischen Union zurückkehren wollen, die ein Bündnis von Nationen ist, die bestimmte wichtige Dinge gemeinsam tun, die Dinge tun, die die Nationalstaaten alleine nicht am besten tun könnten. Wir kämpfen gegen diejenigen, die die Europäische Union in einem föderalistischen Sinne verändern wollen, was nicht dem ursprünglichen Modell der EU entspricht. Als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1957 mit den Römischen Verträgen gegründet wurde, war sie als Staatengemeinschaft gedacht, die sich nicht um alles, sondern nur um bestimmte Dinge kümmern sollte. Stattdessen hat man leider im Laufe der Zeit versucht, den Nationen Kompetenzen zu entziehen, indem man sie unter das Dach der Europäischen Union gebracht hat. Auf diese Weise hat man unserer Meinung nach versucht, Situationen zu standardisieren, die nicht standardisiert werden sollten. Paradoxerweise haben wir dann vergessen, Europa dort zu schaffen, wo es notwendig ist.

Euronews: Viele sagen, das Vetorecht blockiere die Europäische Union. Sie hingegen verteidigen das Vetorecht, warum?

Nicola Procaccini: Wir treten dafür ein, dass Europa ein Bündnis der Nationen bleibt und kein föderalistischer Superstaat. In dem Moment, in dem man einer Regierung die Möglichkeit nimmt, ein Vetorecht auszuüben, das ihre nationalen Interessen berührt, bewegt man sich auf einen föderalen Superstaat zu. Aber lassen Sie mich Ihnen etwas sagen, was bis heute noch nie passiert ist. Es ist noch nie vorgekommen, dass ein Veto die Verabschiedung einer Verordnung, einer Idee, einer Richtlinie unmöglich gemacht hat. Es hat manchmal zu Verhandlungen geführt, die Tage, manchmal Wochen gedauert haben. Aber warum muss das so sein? Die Europäische Union muss sich nicht um alles kümmern, sondern nur um einige wichtige Dinge. Deshalb widerspricht die Aufteilung Europas in A- und B-Nationen, in einige C- und einige D-Nationen der Idee von Europa, dass wir ein Bündnis von Nationen haben, das einige wenige, aber wichtige Dinge (gemeinsam) tut.

Euronews: In der Schuman-Erklärung von 1950 wird die Europäische Föderation jedoch ausdrücklich erwähnt.

Nicola Procaccini: Nein

Euronews: Doch.

Nicola Procaccini: Die Europäische Union wurde als Bund (Konföderation) und nicht als Föderation von Nationen gegründet.

Euronews: Doch, so steht es in der Schuman-Erklärung.

Nicola Procaccini: Nein, das ist das Manifest von Ventotene, das ist etwas anderes.

Euronews: Es ist die Schuman-Erklärung von 1950. "Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion … wird die erste Etappe der europäischen Föderation sein."

Nicola Procaccini: Das ist ein anderes Konzept, das ich Ihnen erläutern könnte, wenn wir die Gelegenheit dazu hätten. Ich möchte etwas Selbstverständliches sagen: Die Europäische Union ist nicht als Föderation entstanden, sondern als Konföderation, sie ist eben auf der Grundlage von Kohle, von Stahl entstanden, also auf der Grundlage weniger Dinge, wie zum Beispiel der Versorgung mit Rohstoffen, wie zum Beispiel der Versorgung mit Energie. Das ist eines der Dinge, bei denen es klar ist, dass die Staaten, wenn sie sich zusammenschließen, eine bessere Leistung in Bezug auf die Qualität der Ausgaben und die Qualität der Energiequelle erzielen können, als wenn sie alleine wären. Aber wir können so viele Debatten führen, wie Sie wollen, man kann nicht argumentieren, dass die Europäische Union - weder als Montanunion noch nach den Römischen Verträgen als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft - als föderalistischer Staat, als Vereinigte Staaten von Europa geboren wurde. Das ist etwas völlig Irreales, also wenn Sie wollen, können wir natürlich darüber reden, aber ich fürchte, das würde uns ein wenig vom Weg abbringen.

Euronews: Nein, nein, ich wollte nur die Schuman-Erklärung präzise ziteren.

Nicola Procaccini: Ich könnte hier De Gaulle und viele andere Väter der Europäischen Union nennen, die sich in dieser Hinsicht sehr klar geäußert haben.

Die EKR-Fraktion lehnt das System der Spitzenkandidaten ab

Euronews: Ok. Ihre Fraktion legt in den Umfragen stark zu. Sie haben keinen Spitzenkandidaten gewählt. Da drängt sich die Frage auf: Wen wollen Sie an der Spitze der nächsten Europäischen Kommission sehen?

Nicola Procaccini: Warum haben wir keinen Spitzenkandidaten? Aus dem gleichen Grund, den ich vorhin genannt habe. Warum gibt es keinen Spitzenkandidaten in den europäischen Verträgen zur Gründung der Europäischen Union? Weil der Präsident der Europäischen Kommission von den Regierungen und nicht von den Parteien gewählt wird. Wir reklamieren, dass nur die Regierungen legitimiert sind, den Präsidenten der Europäischen Kommission zu wählen, nicht die Parteien. Das ist der Hauptgrund, warum jeder andere Kandidat für uns nicht wählbar ist, weil er nicht der Kandidat unserer Fraktion ist. Aber auch, weil es vom Konzept her falsch ist, weil wir weiterhin den Nationen und den von den Bürgern legitim gewählten Regierungen die Kompetenzen entziehen, die schwarz auf weiß in den Gründungsverträgen der Europäischen Union stehen.

"Besser post- als neofaschistisch"

Euronews: In Europa wird den rechtspopulistischen Parteien heute oft vorgeworfen, dass sie ihre Nähe zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel in Spanien zum Franquismus, nicht völlig leugnen. Im Ausland wird zum Beispiel Ihre Partei, die Fratelli d'Italia, in der ausländischen Presse oft als postfaschistische Partei bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

Nicola Procaccini: Besser post- als neofaschistisch, oder wie auch immer man es nennen will. Die Wahrheit ist, dass im Europäischen Parlament eine Resolution verabschiedet wurde, die alle Totalitarismen des 20. Jahrhunderts verurteilt. Fratelli d'Italia, Vox und alle rechten Parteien haben dafür gestimmt. Die Linke stimmte dagegen. Insbesondere die Demokratische Partei Italiens, offensichtlich um den Kommunismus zu verteidigen. Wir verurteilen sie alle.

Re­sü­mee nach 5 Jahre Ursula von der Leyen

Euronews: Ursula von der Leyen: Was hat Ihnen in diesen fünf Jahren gefallen und was nicht?

Nicola Procaccini: Sehr wenig. Aber auch, weil es eine fast ausschließlich linke Europäische Kommission war, so dass Frans Timmermans sogar mehr Macht hatte als Ursula von der Leyen und sogar das wichtigste Regierungsprogramm der Kommission, den Grünen Deal, umsetzen konnte. Glücklicherweise wird das nicht mehr möglich sein, denn egal wie die Europawahlen ausgehen, wir wissen jetzt schon, dass die nächste Europäische Kommission Mitte-Rechts sein wird, weil die Kommissare von den Regierungen ernannt werden, sie werden nicht durch Wahlen ernannt, und die Regierungen sind Mitte-Rechts.

Euronews: Wären Sie als Konservative bereit, von der Leyen oder einen anderen EVP-Kandidaten zu unterstützen?

Nicola Procaccini: Das ist etwas, was wir je nach dem Kräfteverhältnis sehen müssen, weil sie vielleicht einen unserer Kandidaten unterstützen müssen. Wir werden sehen.

Euronews: Wenn Sie sich für ein Ziel der Fratelli d'Italia und der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten für die nächste Legislaturperiode entscheiden müssten, welches würden Sie wählen?

Nicola Procaccini: Ein Ziel? Auf jeden Fall, die illegale Einwanderung zu stoppen und den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Euronews: Die italienische Regierung, die von einer konservativen Partei geführt wird, hat den Migrationspakt, die Reform der europäischen Migrationspolitik, unterstützt und gebilligt. Die polnische Regierung, als sie noch von einer konservativen Partei geführt wurde und auch heute noch wird, ist strikt dagegen. Ist die Umverteilung von Asylbewerbern für Sie als Konservative ein Reizthema? redistribuzione dei richiedenti asilo è un tema divisivo per voi conservatori?

Nicola Procaccini: Die derzeitige polnische Regierung hat dagegen gestimmt.

Euronews: Und die vorherige auch...

Nicola Procaccini: Nein, denn das ist ein Schlüsselpunkt, denn die derzeitige Regierung ist von der EVP und wird von den Sozialisten unterstützt. Sie hat dagegen gestimmt, ihre parlamentarischen Vertreter haben dagegen gestimmt. Wir glauben, dass dieser Pakt noch nicht der richtige Weg ist, um mit dem Phänomen der illegalen Einwanderung, der Einwanderung im Allgemeinen umzugehen. Aber objektiv gesehen ist es ein erster Schritt in die richtige Richtung. Deshalb haben wir dafür gestimmt, denn objektiv gesehen geht er in die Richtung, die Giorgia Meloni seit Jahren vertritt, aber sie galt als gefährliche faschistische Extremistin, die Menschen ertränken wollte. Was ist die Lösung? Die Lösung ist, die Abreise zu stoppen, denn wenn die Migranten erst einmal auf europäischem Boden sind, ist es zu spät. Dann ist der Diskurs über Unterbringung und Verteilung ein Diskurs, den man gar nicht erst führen sollte. Denn wenn wir auf der anderen Seite vorher festlegen können, wer asylberechtigt ist und wer nicht, dann lassen wir nur die Berechtigten rein und dann reden wir über 15 % der gesamten illegalen Einwanderung. Auf diese Weise können wir das abscheulichste Geschäft, das es gibt, nämlich das der Schlepper, unterbinden. Und gleichzeitig können wir ein Phänomen regulieren, das reguliert werden muss, denn die legale Einwanderung ist etwas, das alle Nationen brauchen, aber sie muss quantitativ begrenzt und wenn möglich auch ausgewählt sein. Sie muss auch qualifiziert sein. Das dient dem Aufnahmeland und das dient auch dem Migranten, der dann nicht an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt wird oder zum Handlanger des organisierten Verbrechens wird, sondern einen Platz in unseren Gesellschaften finden kann, der auch für ihn menschenwürdig ist.

Wie steht es um den Grünen Deal?

Euronews: In diesem Museum sind wir umgeben von schönen Oldtimern mit Verbrennungsmotor. Werden Autos mit Verbrennungsmotor in Europa nach 2035 nur noch Museumsstücke sein oder gibt es noch Hoffnung auf Veränderung?

Nicola Procaccini: Es gibt noch Hoffnung, wenn sich durchsetzt, was wir wollen, nämlich das Konzept der Technologieneutralität. Das Beispiel des Verbrennungsmotors und des Elektromotors ist sehr anschaulich. Mit Biokraftstoffen, die in der Endbilanz emissionsfrei sind, ist es möglich, den Verbrennungsmotor überleben zu lassen, ohne zwangsläufig auf eine Technologie, nämlich den Elektromotor, verzichten zu müssen, bei der wir keine Hoheit über die Produktionskette haben. Was bedeutet nun Technologieneutralität? Es bedeutet, ein gemeinsames Ziel zu haben, aber den Nationen die Freiheit zu lassen, die beste Technologie entsprechend ihren Besonderheiten zu wählen. Dies ist ein Konzept, das uns sehr am Herzen liegt und das wir in den kommenden Jahren stark unterstützen werden.

Euronews: Aber in der genehmigten Verordnung sind Biokraftstoffe nicht enthalten.

Nicola Procaccini: Nein, sind sie nicht.

Euronews: Wollen Sie eine Ausnahme?

Nicola Procaccini: Auf jeden Fall ja.

Euronews: Apropos Neutralität: Die Konservativen und Reformisten haben sich gegen fast alle Maßnahmen des europäischen Grünen Deals ausgesprochen. Teilen Sie das Ziel der Klimaneutralität bis 2050?

Wir teilen das Ziel, die Umwelt und die Natur so wenig wie möglich zu belasten. Das muss mit gesundem Menschenverstand und mit Ausgewogenheit geschehen.

Nicola Procaccini: Wir teilen das Ziel, die Umwelt und die Natur so wenig wie möglich zu belasten. Das muss mit gesundem Menschenverstand und mit Ausgewogenheit geschehen. Diese beiden Begriffe, gesunder Menschenverstand und Ausgewogenheit, wurden von der europäischen Politik in den vergangenen Jahren völlig verdrängt und auf dem Altar eines perversen ideologischen Furors geopfert, der dazu geführt hat, dass die CO2-Emissionen gestiegen sind, denn sie werden 2023 steigen, obwohl sie in der Europäischen Union stark gesunken sind, und das um den Preis der Zerstörung unserer Wettbewerbsfähigkeit und der Zerstörung von Umwelt und Natur. Denn diejenigen, die den grünen Wandel umsetzen, diejenigen, die die Hoheit haben, sind im Moment die Chinesen. Die Chinesen nutzen ihren Wettbewerbsvorteil dank der europäischen Entscheidungen und kümmern sich gleichzeitig überhaupt nicht um die Umweltstandards, die uns wichtig sind. Denn dann werden die Batterien, die Photovoltaikpaneele in Kohlekraftwerken produziert, die sich einen Dreck darum scheren.

Euronews: Klimaneutralität bis 2050 - ist das zu viel verlangt?

Nicola Procaccini: Ich denke, dass dieses Ziel in Reichweite ist, aber es muss, ich wiederhole, mit gesundem Menschenverstand getan werden. Der Fall der Biokraftstoffe ist ein Beispiel dafür, wie der gesunde Menschenverstand beiseite geschoben wird und einen auf dumme Gedanken bringt, denn wenn eine umweltneutrale Technologie verboten wird, wird sie von den Institutionen nicht berücksichtigt... das lässt einen vermuten, dass es wirtschaftliche Interessen gibt.

Sind gemeinsame EU-Schulden eine Option für die Zukunft?

Euronews: Italien ist das Land, das zahlenmäßig am meisten von Next GenerationEU profitiert hat, der bisher einzigen gemeinsamen Anleiheemission in der Geschichte der Europäischen Union. Würden Sie weitere gemeinsame Anleihen in der Zukunft befürworten?

Nicola Procaccini: Italien ist leider der größte Nutznießer gewesen, weil es nach dem aufgestellten Algorithmus das Land war, das am schlimmsten von der Pandemie betroffen war, und somit folglich auch die meisten Mittel bekam. Die so genannten Eurobonds sind eine Erfindung, eine Initiative der italienischen Mitte-Rechts-Regierung. Giulio Tremonti, damals Minister in der Regierung Berlusconi, heute Abgeordneter der Fratelli d'Italia, war der erste, der in Europa über eine gemeinsame Verschuldung gesprochen hat: Er rennt mit uns in dieser Hinsicht offene Türen ein.

Euronews: Die Fidesz-Partei von Viktor Orbán steht Ihren Positionen in vielen Fragen nahe, nicht aber in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Könnte sie sich Ihrer Meinung nach nach den Wahlen den europäischen Konservativen und Reformisten anschließen?

Nicola Procaccini: Dazu möchte ich anmerken, dass die Regierung von Viktor Orbán mit allen anderen 26 europäischen Staaten für alle Hilfspakete für das ukrainische Volk gestimmt hat, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch, vom ersten bis zum letzten.

Euronews: Aber sie hat sie verzögert.

Nicola Procaccini: Sie hat sie auch deswegen verlangsamt, weil sie ihr eigenes Recht durchsetzen wollte: das Recht, nicht politisch diskriminiert zu werden, wie es in den vergangenen Jahren unter dem Vorwand der Rechtsstaatlichkeit geschehen ist, so dass die letzte Hilfslieferung freigegeben wurde, weil schwarz auf weiß festgehalten wurde, dass Artikel sieben, die Rechtsstaatlichkeit, nicht als ideologische Keule benutzt wird, um eine Regierung zu unterdrücken, nur weil sie eine andere politische Farbe als die sozialistische hat.

Euronews: Würden sich die Fratelli d'Italia stattdessen der Europäischen Volkspartei anschließen?

Nicola Procaccini: Das schließe ich völlig aus. Wir sind die EKR, wir haben viel in diese politische Familie, in diese politische Tradition investiert, und wir verteidigen sie mit aller Kraft.