Rechtsruck bei der Europawahl: Müssen sich Frauen stärker gegen Rechtsextreme engagieren?
Mehr Abgeordnete rechtsextremer Parteien im Europäischen Parlament, das könnte nach den Europawahlen im Juni Realität werden.
Laut einer exklusiven Umfrage von Ipsos für Euronews können rechtxextreme, rechtspopulistische und euroskeptische Parteien voraussichtlich 30 Sitze mehr im neuen Europäischen Parlament erhalten. In Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Österreich liegen extrem rechte Parteien sogar vorn.
Nicht nur in Deutschland konnte die AfD zulegen. In Portugal haben die Wähler und Wählerinnen bei den Parlamentswahlen am 10. März 2024 insgesamt 50 Abgeordnete der rechtspopulistischen Chega gewählt.
Zahlreiche Frauen fürchten deshalb um ihre Rechte und um die feministische Agenda der EU.
Auf nationaler Ebene haben einige Regierungen in Europa bereits Gesetze verabschiedet, die Frauen von Kritikerinnen und Kritikern als frauenfeindlich betrachtet werden. Dies ist der Fall in Italien, wo ein Gesetz verabschiedet wurde, das Abtreibungsgegnern den Zugang zu Frauen ermöglicht, die einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch erwägen.
In der Oxfam-Studie "A Feminist Europe?" heißt es: "Der zunehmende Rückschlag gegen die Gleichstellung der Geschlechter in ganz Europa lässt sich an den wachsenden Wahlerfolgen und der Vertretung rechtsextremer populistischer Gruppen in Ländern wie Schweden, Italien und den Niederlanden ablesen."
Cecilia Francisco Carcelén, eine der drei Autorinnen der Studie und Expertin für Geschlechtergleichstellung, bestätigt im Gespräch mit Euronews: "Der Abbau von Frauenrechten ist der Kern dessen, wofür rechtsextreme Bewegungen eintreten."
Im Jahr 2022 betrug der Anteil der Frauen an der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten laut Eurostat 52 Prozent. Wird der Anstieg der rechtsextremen Stimmen Frauen dazu bringen, sich bei den Europawahlen 2024 politisch zu engagieren?
Eleonora del Vecchio, eine weitere Mitautorin der Studie und Forscherin auf dem Gebiet der Geschlechtergleichstellung, glaubt, dass "Frauen, die sich von der extremen Rechten bedroht fühlen, sich stärker in die Politik einbringen können", aber nur, wenn sie noch an die Institutionen und an die Demokratie glauben.
Frauen fühlen sich "von der Politik abgekoppelt"
Lange Zeit war der Anteil der Frauen, die sich der Stimme enthielten, im Vergleich zu den Männern sehr unterschiedlich. Obwohl sich die Kluft bei der Wahlbeteiligung insbesondere seit den Europawahlen 2014 verringert hat - 45 Prozent der Männer gaben an, wählen zu gehen, gegenüber 41 Prozent der Frauen -, kommt die Robert-Schuman-Stiftung zu dem Schluss, dass "Frauen sich immer noch weniger in die europäische Politik eingebunden fühlen als Männer".
Eine von Eurobarometer in einem Szenario nach den Europawahlen 2019 durchgeführte Studie ergab außerdem, dass Frauen häufiger als Männer erklären, sie hätten nicht gewählt, weil sie nicht viel über das Europäische Parlament oder die Europawahlen wüssten.
Carcelén reagiert darauf: "Es überrascht nicht, dass sich viele Frauen von (männlichen) Politikern abgekoppelt fühlen, vor allem, wenn diese nicht auf ihre täglichen Bedürfnisse als Frauen eingehen, was zu einer öffentlichen Politik führt, die das Geschlecht nicht berücksichtigt. Das ist eine Rückkopplungsschleife, die durch Geschlechterstereotypen angeheizt wird".
EU-Institutionen bleiben für viele "irrelevant"
Emma Rainey, eine weitere Mitautorin der Oxfam-Studie und Beraterin für Gleichstellungsfragen, betont, dass "für viele Frauen die Institutionen der Europäischen Union für ihr Leben irrelevant und abstrakt bleiben", insbesondere nach der Pandemie, als sich ihre Lebensqualität erheblich verschlechterte und es keine konkreten Maßnahmen gab, "um die gestiegene Belastung zu beseitigen".
Für die Präsidentin der NRO European Women's Lobby, Iliana Balabanova, ist einer der Gründe für diese Gleichgültigkeit die fehlende Vertretung auf der politischen Bühne.
Derzeit gibt es auf europäischer Ebene keine Daten über die verschiedenen Gruppen von Frauen in diesem Bereich.
Balabanova fügt hinzu: "Und ich muss sagen, dass wir von den 33 Prozent Frauen im Europäischen Parlament nur 17 Abgeordnete aus ethnischen Minderheiten haben, was bedeutet, dass eine große Gruppe von uns schlecht vertreten ist."
Politische Vertretung von Frauen
Seit der Wahl von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission im Jahr 2019 hat sich die Zahl der weiblichen Kommissare von neun auf 13 von insgesamt 27 erhöht, womit das Ziel der Geschlechtergleichheit im Kollegium der Kommissare erreicht wurde.
Die Präsidentin des EU-Parlaments Roberta Metsola und EZB-Chefin Christine Lagarde sind weitere Frauen in Führungspositionen in den europäischen Institutionen.
Die Existenz weiblicher Persönlichkeiten in Spitzenpositionen eröffnet jedoch eine Debatte darüber, ob dies ausreicht, um die Gleichstellung der Geschlechter zu gewährleisten.
Rainey sagt, dass die bedeutenden Fortschritte bei der Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, die seit von der Leyens Amtsantritt als Präsidentin der Europäischen Kommission erzielt wurden, "unbestreitbar" seien, weist aber auch darauf hin, dass sie "sehr privilegiert" sei und ihre Realität "sehr weit von der Alltagsrealität der meisten Frauen" entfernt sei.
Eleonora del Vecchio geht noch weiter: "Eine Frau macht noch keine Verfechterin der Gleichstellung oder Feministin."
"Roberta Metsola kommt aus Malta, einem Land, in dem Abtreibung illegal ist, außer in Fällen, in denen das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. In einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2015 erklärten die Europaabgeordnete und ihre maltesischen Kollegen, dass sie "kategorisch gegen Abtreibung" seien. Es ist allgemein bekannt, dass die körperliche Autonomie für die Selbstbestimmung von Frauen von entscheidender Bedeutung ist und dass ein Verbot der Abtreibung drastische Folgen hat, insbesondere für arme Frauen und Migrantinnen", fügt sie hinzu.
Gewalt gegen Frauen
Unabhängig von ihrer politischen Überzeugung sind Frauen, die sich für eine politische Karriere entscheiden, in den vergangenen Jahren vermehrt Gewalt ausgesetzt.
Die psychische, physische und Online-Gewalt, der sie ausgesetzt sind, kann sie dazu bringen, die Politik aufzugeben.
Eine Studie mit 2424 Teilnehmern und Teilnehmerinnen in 31 Ländern zeigt, dass 21 % der Frauen in der Politik nach ständigem Kontakt mit dieser Art von Gewalt weniger aktiv an der öffentlichen Debatte teilnahmen, 12 % sich aus dem öffentlichen Leben zurückzogen und 9 % beschlossen, nicht mehr zu kandidieren.
Marie-Colline Leroy, die derzeitige belgische Staatssekretärin für Gleichstellung, Chancengleichheit und Vielfalt, erklärt, dass oft versucht wird, ihre Argumente zu delegitimierren, indem sie als Frau oder mit Hinweisen auf ihr Aussehen angegriffen wird.
Dieses Klima der Angst veranlasst Iliana Balabanova jedoch zu der Forderung: "Wir verdienen es, dass unsere Stimme gehört wird. Wir verdienen es, dass unsere Forderungen erfüllt werden. Wir verdienen unseren Platz in der Politik, in der Kultur, in der Wirtschaft und als menschliche Wesen. Das ist es, was uns wirklich mobilisieren wird."