Seit einem halben Jahr regiert der umstrittene Javier Milei Argentinien: Was hat er erreicht – und was nicht?

Große Symbolik: Javier Milei verspricht im Wahlkampf, Argentinien mit der Kettensäge zu verändern.  - Copyright: Photo by Tomas Cuesta/Getty Images
Große Symbolik: Javier Milei verspricht im Wahlkampf, Argentinien mit der Kettensäge zu verändern. - Copyright: Photo by Tomas Cuesta/Getty Images

Vor sechs Monaten war Argentiniens Wirtschaft in einem katastrophalen Zustand, die Gesellschaft tief gespalten, die Lage chaotisch. Dann wurde der Radikalliberale Ökonom Javier Milei zum Präsidenten der zweitgrößten Volkswirtschaft Südamerikas gewählt. Milei inszenierte sich als „Anarcho-Kapitalist“, ja als Gegner jenes Staates, den er nun führt. Legendär wurde sein Wahlkampf mit einer Kettensäge, die er drohend gegen das Geflecht aus Interessengruppen und Institutionen erhob, das Argentinien in jahrzehntelanger Misswirtschaft an den Rand des Abgrund geführt hatte.

Und heute? Sechs Monate später ist Argentiniens Wirtschaft in einem katastrophalen Zustand. Die Lager sind zerstrittener als je. Milei hat die Kettensäge tatsächlich angeworfen und die Ausgaben des Staates rasiert. Er hat tausende Staatsbedienstete entlassen, Subventionen gestrichen, Programme für Soziales und auch Bildung gekappt. Milei liefert. Das treibt seine Gegner auf die Straße, provoziert Generalstreiks und Unruhen. Seine Anhänger aber sind zufrieden und hoffen trotzig auf ein Ende der Dauerkrise. Milei kann auch erste Erfolge verbuchen im Kampf gegen Hyperinflation, Peso-Verfall und Staatsbankrott.

Argentinien steckt mitten in einem einzigartigen volkswirtschaftlichen und sozialen Experiment. Der Ausgang ist völlig offen. Zehn Einblick nach sechs Monaten Kettensägen-Politik.

1. Inflation: Höhepunkt bei 290 Prozent erreicht?

Argentinien gehört seit Jahren zu den Ländern mit der höchsten Inflation weltweit. Aktuell ist das Bild zwiespältig. Im April stieg die Inflationsrate noch einmal leicht auf sagenhafte 290 Prozent. Für die Menschen in Argentinien ist das Leben derzeit also fast vier Mal so teuer wie vor einem Jahr. Allein von März auf April stiegen die Preise um 8,8 Prozent. Die Teuerung in nur einem Monat entspricht damit etwa der Jahresteuerung in Deutschland auf dem Höhepunkt der Inflationswelle im Oktober 2022. Besonders bitter für die Menschen: Preistreiber sind die Kosten für Wohnen, Gas, Wasser und Strom. Auch, weil Milei Subventionen in diesem Bereich gekappt hat.

Aber: Das Tempo der Hyperinflation lässt nach. Im April blieb die monatliche Inflationsrate zum ersten Mal seit Oktober einstellig. Ökonomen führen das auf eine langsamere Ausweitung der Geldmenge und den Einbruch der Nachfrage zurück. Der Internationale Währungsfonds (IWF) traut Argentinien zu, die Jahresrate der Inflationsrate dieses Jahr auf 150 Prozent und nächstes Jahr auf 45 Prozent zu drücken.

Javier Milei nach seiner Vereidigung als Präsident Argentiniens im Dezember 2023 in Buenos Aires.  - Copyright: AP Photo/Gustavo Garello
Javier Milei nach seiner Vereidigung als Präsident Argentiniens im Dezember 2023 in Buenos Aires. - Copyright: AP Photo/Gustavo Garello

2. Staatshaushalt: Erster Überschuss seit 15 Jahren

Milei schreibt sich die ersten Erfolge gegen die Inflation auf seine Fahne, besser: auf seine Kettensäge. Stolz verkündete der Präsident im April, dass Argentinien im ersten Quartal 2023 einen Überschuss im Staatshaushalt erreicht habe. „Das ist das erste Quartal mit einem Haushaltsüberschuss seit 2008, ein Meilenstein, auf den wir alle stolz sein sollten“, sagte Milei und versprach in einer eigens dafür inszenierten Fernsehansprache: „Das ist der Anfang vom Ende der Inflationshölle."

Das Fegefeuer aber ist Mileis radikaler Sparkurs. Seine Regierung hat sofort nach ihrem Antritt rund 15.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen, Subventionen gekürzt, Sozialausgaben gekappt und Programme für Soziales und auch Bildung beendet. Kritiker bemängeln, dass Milei hunderttausende Menschen in Armut stürze, mit den Kürzungen im Bildungssektor die Zukunft des Landes aufs Spiel setze und die Konjunktur komplett abwürge.

„Ich möchte allen Argentiniern sagen, dass ich verstehe, dass die Situation, in der wir uns befinden, hart ist, aber auch, dass wir bereits mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt haben“, sagte Milei. „Dies ist die letzte Etappe einer heroischen Anstrengung, die wir Argentinier unternehmen, und zum ersten Mal seit langer Zeit wird sich diese Anstrengung lohnen.“ Sicher sind zunächst vor allem die Härten.

3. Konjunktur: Absturz wie in der Corona-Pandemie

Die Konjunktur in Argentinien ist eingebrochen. So stark wie in Zeiten der Lockdowns zur Corona-Pandemie. Die Industrieproduktion schrumpfte seit Jahresbeginn zum Vorjahreszeitraum um 21 Prozent. Mileis „Kettensägen“-Kürzungen trugen dazu bei, dass auch der private Verbrauch und die Bautätigkeit stark zurückgingen.

Einige Beispiele: Nach Zahlen der Statistikbehörde schrumpfte die Möbelproduktion um 40 Prozent. Die Elektronik- und Werkzeugindustrie büßte 43 Prozent ein, der Maschinenbau rund ein Drittel. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Es gibt bisher keinen Halt auf der Rutschbahn. Allein im Monat März blieb die gesamte Produktion um 6,3 Prozent unter dem Februar.

Trotz des Einbruchs zum Jahresbeginn hielt der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem neuen „World Economic Outlook“ an seiner Prognose für Argentinien fest. Der IWF erwartet, dass die argentinische Wirtschaft in diesem Jahr „nur“ um 2,8 Prozent schrumpft.

4. Soziales Klima: Generalstreiks und Unruhen

Gleich mehrmals haben die Gewerkschaften Argentinien mit Generalstreiks lahmgelegt, zuletzt Anfang Mai. Bisher waren diese Streiks jeweils nur kurz. Die Proteste richten sich dabei nicht nur gegen die Entlassungen und Kürzungen durch den Staat. Die in Argentinien einflussreichen Gewerkschaften wehren sich auch gegen Mileis Vorhaben, ihre Rechte einzuschränken. Das wirtschaftliche Leben und der Verkehr kamen zum Erliegen, auch die Schulen blieben geschlossen. Auch das erinnerte an Corona.

Ein Demonstrant und Polizisten bei einer der zahlreichen Großdemonstrationen gegen die Sparpolitik des Präsidenten Javier Milei in Argentinien.  - Copyright: AP Photo/Natacha Pisarenko
Ein Demonstrant und Polizisten bei einer der zahlreichen Großdemonstrationen gegen die Sparpolitik des Präsidenten Javier Milei in Argentinien. - Copyright: AP Photo/Natacha Pisarenko

Die größte Gewerkschaft des Landes, CGT, erklärte, sie streike auch „für die Verteidigung der Demokratie, der Arbeitnehmerrechte und eines existenzsichernden Lohns“.

Die Gewerkschaften werden von den linksgerichteten peronistischen Parteien unterstützt, die jahrzehntelang Argentiniens Politik dominiert und das Land mit in die Dauerkrise manövriert hatten, unter anderem mit dem übergroßen und ineffizienten Staatsapparat, gegen den Milei mobil macht.

Fakt ist, dass eine wachsende Zahl von Menschen als Folge der Inflation und des harten Sparkurses Milies auf Unterstützung angewiesen ist. Nach Angaben der Katholischen Universität Argentiniens leben derzeit fast 60 Prozent der Menschen in dem einst reichen Land unter der Armutsgrenze.

5. Aufarbeitung der Klientel-Wirtschaft

Die Staatsanwaltschaft leitete in dieser Woche Ermittlungen gegen 28 Verdächtige ein, die als Funktionäre einflussreicher sozialer Organisationen in Argentinien jahrelang Mitglieder erpresst und staatliches Geld unterschlagen haben sollen. Bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmte die Polizei Zehntausende US-Dollar in bar, Dutzende Bankkarten und zahlreiche Mobiltelefone.

Solche sozialen Organisationen waren in der Ära der Peronisten zu einer wichtigen politische Kraft geworden. Sie sind eng in die Sozialpolitik eingebunden und verwalten etwa öffentliche Mittel für Suppenküchen oder verteilen staatliche Zuschüsse an Tagelöhner und Arbeitslose - die dafür Mitglieder der Organisationen werden. Sie tragen aktuell auch dazu bei, die Demonstrationen regelmäßig Hunderttausende Menschen gegen Milei auf die Straße zu bringen.

Die Verdächtigen sollen die Mitglieder mehrerer wichtiger sozialen Bewegungen gezwungen haben, einen Teil ihrer staatlichen Unterstützung an sie abzugeben. Zudem hätten sie Mitglieder nach Einschätzung der Ermittler genötigt, an Protesten und Demonstrationen teilzunehmen.

Die Regierung Mileis geht davon aus, dass der Missbrauch innerhalb der sozialen Organisationen System hat. Die Führung der betroffenen Gruppen spricht dagegen von Einzelfällen. Sie wirft der Regierung vor, die sozialen Bewegungen insgesamt diskreditieren zu wollen.

6. Internationaler Währungsfonds: Lob und Kredite

Der IWF hat ein schwieriges Verhältnis zum Dauerpatienten Argentinien. Mehrfach musste der Fonds einspringen, um Argentinien vor dem Bankrott zu retten. Immer wieder hielten sich Regierungen nicht an Auflagen. Viele Argentinier machen den IWF sogar für die Krisen verantwortlich. Milei erreichte kurz nach seinem Amtsantritt eine Einigung mit dem IWF, der daraufhin bisher blockierte Kredite freigab.

Anfang Mai gab der IWF eine weitere Tranche von einer Milliarden US-Dollar für Argentinien frei – und verband dies mit einem Lob für die Reformen. Die Entwicklung sei 2024 viel besser als erwartet und alle Vorgaben seien erfüllt. Ein Sprecher des IWF sprach sogar von „beeindruckenden Fortschritten" unter der neuen Regierung. Das wiederum brachte internationale Gewerkschafts-Organisationen gegen den IWF auf. Derzeit steht Argentinien beim multinationalen IWF mit 44 Milliarden US-Dollar in der Kreide.

„Der Weg zur Stabilisierung ist nie einfach“, sagte IWF-Sprecherin Julie Kozack. Angesichts der Inflation und der weit verbreiteten Armut in Argentinien, mahnte der IWF staatliche Programm zum Ausgleich der Lasten vor allem für Familien, Kinder und Rentner an. Die Reformen brauchen „soziale und politische Unterstützung, um ihre Dauerhaftigkeit und Effizienz zu gewährleisten.“

7. Mehr Lithium, weniger Fleisch

Milei will die bisher durch hohe Zölle stark abgeschottete Wirtschaft Argentiniens stärker für den Welthandel öffnen und Bodenschätze wie Lithium stärker fördern. Argentinien verfügt über große Vorkommen an Lithium, das unter anderem in den Batterien von Elektroautos zum Einsatz kommt.

„Als ich mein Amt antrat, habe ich einen Staat vorgefunden, der seine grundlegenden Aufgaben nicht erfüllen konnte", sagte Milei. "Ein Staat, der alles macht, macht alles schlecht."

Wie schlecht es vielen Argentiniern geht, zeigt kaum eine Statistik so deutlich wie diese: Die Menschen in Argentinien essen deutlich weniger Fleisch. Schon 2023 sankt der Pro-Kopf-Verbrauch um fast 20 Prozent auf 42,6 Kilo. Dabei wird in kaum einem anderen Land so viel Rindfleisch gegessen wie in Argentinien mit seiner ausgeprägten Grillkultur. Der Branchenverband macht die sinkende Kaufkraft für den stetigen Rückgang verantwortlich. 2009 aßen die Argentinier durchschnittlich noch über 70 Kilo Rindfleisch pro Jahr. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Pro-Kopf-Verzehr bei knapp neun Kilo.

8. Miliei und Musk: „Liebe auf den ersten Blick“

Milei traf sich in den USA mit Tesla-Chef und Multi-Unternehmer Elon Musk - der sich ebenfalls gern als ultraliberal sieht. "Es war wie Liebe auf den ersten Blick", zitierte die Zeitung "La Nación" Argentiniens künftigen Botschafter in den USA, Gerardo Werthein, der dabei war. Man sei einig gewesen, dass Märkte weitrer geöffnet und die Ideen der Freiheit verteidigt werden müssten, teilte Mileis Büro mit. „Auf eine aufregende und inspirierende Zukunft", schrieb Musk auf seiner Nachrichtenplattform X.

April 13, 2024: Elon Musk promete inversiones en el sector del litio en Argentina tras recibir a Milei en Texas (Credit Image: © Presidencia Argentina/La Nacion via ZUMA Press - Copyright:  Presidencia Argentina/La Nacion via ZUMA Press
April 13, 2024: Elon Musk promete inversiones en el sector del litio en Argentina tras recibir a Milei en Texas (Credit Image: © Presidencia Argentina/La Nacion via ZUMA Press - Copyright: Presidencia Argentina/La Nacion via ZUMA Press

Aus Mileis Delegation wurde die Hoffnung geäußert, dass Musk in Argentinien investiert. Gemeinsam wollen Musk und Milei eine Konferenz zur Stärkung freiheitlicher Ideen in Argentinien veranstalten.

9. Der Peso: Fast wertlos, aber deutlich stabiler

Zum Schluss noch einmal zurück zum Geld. Argentiniens Peso gehört seit Jahren zu den schwächsten Währungen der Welt. Die Regierung brachte jüngst sogar einen 10.000-Peso-Schein heraus. Er ist kaum zehn Euro Wert. Ein 20.000-Peso-Schein soll folgen. Denn die Inflation ist so hoch, dass Menschen Taschen voller Bargeld für den täglichen Bedarf mit sich tragen müssen. Viele Händler bieten Käufern Rabatte, wenn sie Bargeld statt elektronischer Überweisungen verwenden.

Milei hatte im Wahlkampf angekündigt, den Peso abzuschaffen und durch die US-Dollar zu ersetzen. Davon ist aktuell nicht mehr die Rede. Statt dessen hat Milei den Peso zum US-Dollar noch einmal drastisch abgewertet, in der Folge aber auch etwas stabilisiert.

Argentinien unter Javier Milei: „Wunder oder Fata Morgana"

Milei kürzt die Staatsausgaben, in dem er Stellen im Staatsapparat abbaut, Subventionen streicht und Sozialprogramme beendet. Er beschneidet den Einfluss der Gewerkschaften und Sozial-Organisationen.

„Ein Nulldefizit ist für diese Regierung kein Marketing-Slogan, sondern ein Gebot“, sagt Milei. Denn in den letzten 123 Jahren habe Argentinien in 113 Jahren ein Defizite gemacht. Der Preis, den er vielen Menschen abverlangt ist hoch, und damit auch das Risiko, das Milei bisher aber nicht scheut. Trotz aller Proteste sind viele seiner Wähler zumindest vorerst bereit, Härten hinzunehmen, um die Dauerkrise unter vorherigen linken wie rechten Regierungen endlich zu überwinden.

Auch Finanzmärkte und Anleger setzen derzeit auf einen Erfolg Mileis. Anleihen und Aktien steigen. Der Risikoaufschlag für argentinische Anleihen ist deutlich zurückgegangen. Der Peso hat etwas Stabilität gewonnen, die Währungsreserven haben sich erholt.„Argentiniens Haushaltszahlen sind eine gute Nachricht und zeigen, dass die fiskalische Anpassung schneller geht, als wir erwartet hatten“, lobt das Beratungsunternehmen Capital Economics.

Milei habe viele Staatsausgaben aber „bis auf die Knochen“ gekürzt. „Viele Faktoren, die zu dem Überschuss beigetragen haben, sind nur vorübergehend und werden in den kommenden Monaten abklingen“, mahnt Capital Economics.

In der Folge der Mileischen Einsparungen brachen Konsum und Produktion ein, nimmt die Armut zu, sinken die Reallöhne. Damit steigt das Risiko, dass die sozialen Spannungen und Unruhen zunehmen. Auch der IWF warnt vor zu großer wirtschaftlicher Ungleichheit und fordert die Regierung auf, die Schwächsten im Land zu schützen.

„Für einige ist Milei ein Wunder, für andere nur eine Fata Morgana“, zitiert die Agentur Reuters einen ungenannten Analysten einer ausländischen Privatbank in Buenos Aires. „Die Wahrheit ist, dass es erste Fortschritte in der Makroökonomie gibt. Aber es wird dringend notwendig sein, dass dies auf die Mikroökonomie übergreift, denn es drohen gewaltige sozialen Spannungen.“