Stimmungsbericht aus Stuttgart - Ich erlebe Füllkrugs Tor im anderen Stadion – dann bricht neben mir die totale Ekstase los

Nach dem Ungarn-Tor in der zehnten Minute der Nachspielzeit bricht völlige Ekstase aus<span class="copyright">Getty Images</span>
Nach dem Ungarn-Tor in der zehnten Minute der Nachspielzeit bricht völlige Ekstase ausGetty Images

Während Deutschland gegen die Schweiz ein Remis rettet, spielen sich parallel zwischen Schottland und Ungarn mehrere Dramen ab. Erst gespenstische Stille wegen einer Verletzung. Dann Gefühlsexplosionen in der 100. Minute. Ein Stimmungsbericht aus dem Stadion.

Einmal, ein letztes Mal, legen die schottischen Fans alles in ihre Stimme. Seit 100 gespielten Minuten versuchen sie, den Ball durch pure Sangeskraft ins Tor zu schreien, bisher hat die ganze Anstrengung nichts gebracht. Jetzt aber, die Hoffnung lebt, natürlich lebt sie.

Immer, wenn die schottische Nationalmannschaft im entscheidenden EM-Vorrundenspiel gegen Ungarn die Mittelinie überquert, ach was, einen Ball mit einer sagenhaften Grätsche zum Einwurf klärt, springen zigtausende Vertreter der „Tartan Army“ auf, ballen Fäuste und schleudern Anfeuerungsrufe aufs Feld. Das ist ein bisschen rührend, weil das fußballerische Niveau der Schotten so offensichtlich und so frappierend abfällt zum Niveau ihrer Anhänger.

Aber: Der Wille zählt.

Und es gibt ja noch diese eine Ecke.

Die Schotten, die Ungarn, ein Fest der Emotionen

Wenn die Schotten das 1:0 gegen die Ungarn schießen, hätten sie die realistische Aussicht, als einer der vier besten Gruppendritten ins Achtelfinale einzuziehen. Gerade eben haben sie eine ihrer beträchtlich wenigen Chancen vergeben, macht nichts, die Fans stehen, klatschen, plärren, und die Ecke segelt in den Strafraum.

Was folgt, ist irgendetwas zwischen dem umgekehrten Prinzip Hoffnung und Fatalismus. Die Ungarn klären die Ecke und gehen selbst zum Angriff über; auch sie brauchen unbedingt einen Sieg, um die theoretische Möglichkeit aufs Achtelfinale zu wahren. Und plötzlich hüpft das andere Fanlager auf und ab, jenes in den roten Trikots, nicht in den blauen.

Ich sitze im Stuttgarter Stadion und beobachte das Treiben gespannt. Meinen Platz am äußersten Rand der Pressetribüne habe ich bewusst gebucht, ich wollte nah dran sein an den Stimmungen und Schwingungen der lärmenden Massen, die Schotten, die Ungarn, das versprach ein Fest großer Emotionen. Kein Spoiler: Es wird eines.

Füllkrugs Tor sehe ich auf dem Laptop im anderen Stadion

Direkt neben mir ist eine Treppe, dahinter beginnt der Block, die Schotten sind numerisch in der Überzahl, die Ungarn ein unbeugsamer Widerspart. Blöd allein, dass das Spiel nicht mithalten kann mit der fesselnden Atmosphäre, die tagsüber schon in der Stadt herrscht, in den Zügen, im Stadion. Die Partie ist von überschaubarer Güteklasse.

Ich gebe zu: Parallel habe ich den ARD-Livestream zwischen Deutschland und der Schweiz auf dem Laptop eingeschaltet, tonlos zwar, aber je länger beide Spiele andauern, desto stärker habe ich den deutschen Auftritt im Fokus, weniger den schottisch-ungarischen ein paar Meter vor meinen Augen, unten auf dem Rasen.

148 Kilometer Luftlinie sind es vom Stuttgarter zum Frankfurter Stadion, wo das DFB-Team in der zweiten Minute der Nachspielzeit den Ausgleich erzielt, doch noch, 1:1. Ich registriere Niclas Füllkrugs Treffer, während Schottland gegen Ungarn ebenfalls in der Nachspielzeit ist.

Ungarns Tor in der 100. Minute tritt einen Jubelorkan los

Zehn Minuten obendrauf, die Fans johlen, die Ungarn scheitern am Pfosten, die Schotten rennen mit dem Mute der Verzweiflung an (ein bisschen auch: nur mit Verzweiflung).

Und dann gibt es die Ecke. Und den Konter.

Schottische Fans verzweifeln in Stuttgart<span class="copyright">Getty Images</span>
Schottische Fans verzweifeln in StuttgartGetty Images

Obwohl ausgezehrt von intensiven eineinhalb Stunden plus X, sprinten die Osteuropäer mit Verve die Linie entlang. Schottlands Deckung ist aufgelöst, der Raum offen, Roland Sallai passt den Ball von rechts zur Mitte, Kevin Csoboth versenkt ihn.

1:0 für Ungarn. In der zehnten Minute der Nachspielzeit. Durch Csoboth, 24, bei Ujpest Budapest unter Vertrag. Kurz nach Füllkrugs Tor in Frankfurt bricht auch in Stuttgart ein Jubelorkan los, Bierbecher fliegen, Menschen weinen (wirklich). Es ist ein Heartbreak für die Schotten, aber zugleich ein Zeugnis dafür, was Sport auslösen kann: die ungehemmte, ungefilterte Ektase.

Varga-Drama: Gespenstische Stille, Decken als Sichtschutz

Dass es überhaupt zur zehnminütigen Nachspielzeit kommt, liegt an einem Schreckmoment, der eigentlich viel mehr ist das als – ein Augenblick, der die positiv aufgestaute Emotion mit einem Mal aufsaugt. Und umschlagen lässt in eine geradezu gespenstische Stille, die abrupt im Stadion um sich greift.

Barnabas Varga wird nach einem heftigen Zusammenprall behandelt und mit der Trage vom Feld gebracht<span class="copyright">Visionhaus/Getty Images</span>
Barnabas Varga wird nach einem heftigen Zusammenprall behandelt und mit der Trage vom Feld gebrachtVisionhaus/Getty Images

In der 68. Minute prallt Ungarns Barnabas Varga bei einem Luftduell so unglücklich mit Schottlands Keeper Angus Gunn zusammen, dass er offenbar das Bewusstsein verliert. Sofort bildet sich eine Menschentraube, und Sanitäter versperren die Sicht mit Decken. Die Behandlung zieht sich minutenlang, Ungarns Dominik Szoboszlai (der die Rettungskräfte zunächst zur Eile anstachelt) stehen Tränen in den Augen; Spieler, Betreuer, Fans halten sich Hände vor Münder oder falten sie über Köpfen.

Als Varga mit einer Trage – weiterhin von Decken geschützt – aus dem Stadioninneren getragen wird, klatscht die Arena ergriffen Beifall. Später die Erlösung: Der 29-Jährige kann seine Umwelt wahrnehmen und mit ihr kommunizieren. Der ungarische Verband teilt mit, Varga sei „stabil“.

Wangenknochenbruch bei Varga, aber: „Es geht ihm gut“

Auf der Pressekonferenz berichtet Ungarn-Trainer Marco Rossi, dass sich der Stürmer einen Wangenknochenbruch zugezogen habe, er wird noch in der Nacht operiert. „Zum Glück können wir sagen, dass kein Risiko mehr besteht“, sagt Rossi. „Es geht ihm gut, das ist das Wichtigste.“

Welch ein Abend. Vargas Verletzung, Csoboths Tor, Ungarns Urknall. Und Schottlands tiefe Trauer. Als sich die Lage etwas gesetzt hat, schaue ich nochmals nach links. An der Treppe: ein Mann mit grauem Vollbart, blauem Trikot und Schottenrock. Ermattet sitzt er da, den Rücken leicht nach vorne gebeugt, ein starrer Blick ins Nichts. Ich finde, er sieht aus wie ein Gregg. Ich stehe auf, mache zwei Schritte zur Seite und reiche ihm die Hand hin. Er schlägt ein. „Sorry“, sage ich und meine es so.

Gregg zuckt die Schultern, dann nickt er sachte. „Thanks, mate.“

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