Tag des Atomausstiegs: So verheerend sind die Auswirkungen vergangener Atomkatastrophen

In Deutschland wird seit Jahren kontrovers über den Atomausstieg diskutiert. Während die einen den Ausstieg aus der Atomenergie als unumgänglich für den Klimaschutz sehen, warnen die anderen vor den wirtschaftlichen und energiepolitischen Risiken des Schrittes. Doch auch abseits dieser Diskussion gibt es ein wichtiges Argument für den Atomausstieg: die Gefahr atomarer Störungsfälle. Ein Überblick über die Auswirkungen der bislang größten Nuklearkatastrophen.

Am 26.04.1986 um 1.23 Uhr explodierte der Reaktor in Tschernobyl (Bild: Getty)
Am 26.04.1986 um 1.23 Uhr explodierte der Reaktor in Tschernobyl (Bild: Getty)

Es ist ein historischer Tag: Die letzten Atomkraftwerke in Deutschland werden am Samstag, dem 15. April 2023, abgeschaltet. Die Abschaltung ist umstritten. Unabhängig vom Für und Wider zeigen die Atomunfälle der Vergangenheit jedoch, dass die Nutzung von Kernenergie immer ein hohes Risiko birgt.

Denn seitdem mit Kernreaktionen Energie erzeugt wird, gab es immer wieder Pannen und Unfälle - oftmals mit schwerwiegenden Folgen für Tausende von Menschen.

Hier ein Überblick über die Auswirkungen der größten Nuklearkatastrophen, die sich in der Vergangenheit ereignet haben:

Die zwei bekanntesten Atomkatastrophen der jüngeren Vergangenheit sind die Katastrophen von Tschernobyl im Jahr 1986 und von Fukushima im Jahr 2011. Beide erreichten als einzige Vorfälle der Menschheitsgeschichte auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) die Höchststufe 7. Doch bereits vor Tschernobyl und Fukushima kam es zu Atomunfällen.

Tschernobyl, Ukraine, 1986

Der sogenannte Super-GAU von Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 im ukrainischen Kernkraftwerk Tschernobyl. Eine Sicherheitssimulation endete damals in einer Explosion des Reaktors, die zur Freisetzung von radioaktivem Material führte. Die Reaktortemperatur geriet außer Kontrolle, eine Kernschmelze trat ein.

Als Ursachen für die verheerende Katastrophe gelten die Bauart des Reaktors, aber auch Mängel bei Sicherheitsstandards und nicht zuletzt Fehler in der Bedienung der Anlage.

Unmittelbare Folgen

Sowohl die lokale Bevölkerung als auch die Einsatzkräfte vor Ort waren einer extrem hohen Strahlenbelastung ausgesetzt. Zur genauen Zahl der Todesfälle und der zu erwartenden zusätzlichen Todesfälle infolge von Krebserkrankungen gibt es jedoch sehr unterschiedliche Angaben und eine erbitterte Debatte.

Die Todeszahlen, die von Medien und Experten genannt werden, rangieren von Tausenden über 30.000 bis hin zu einer halben Million. Fest steht: 32 Menschen starben unmittelbar an den Folgen des Reaktorunglücks.

Eine viel höhere Zahl von Menschen erlitt schwere gesundheitliche Schäden, einschließlich der Strahlenkrankheit und Krebs, Tausende starben an diesen Spätfolgen nuklearer Verstrahlung. Nach 1986 stieg insbesondere die Zahl der Schilddrüsenkrebs-Erkrankungen in den stark bestrahlten Gebieten rapide an. In der Umgebung kam es außerdem vermehrt zu Missbildungen bei Neugeborenen.

Schätzungsweise mehr als 100.000 Menschen in der Umgebung des Kraftwerks waren außerdem nach dem Vorfall gezwungen, ihr Leben aufzugeben.

Folgen heute

Fast 40 Jahre nach der Katastrophe sind die Auswirkungen immer noch spürbar. Es wird geschätzt, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis sich die kontaminierte Umgebung vollständig erholt hat. Ein Sperrgebiet von etwa 2.600 Quadratkilometern rund um das Kernkraftwerk wird als "Todeszone" bezeichnet. Insgesamt gilt eine Fläche zweimal so groß wie Österreich als verstrahlt.

Die radioaktiven Niederschläge nach der Katastrophe haben auch Teile Europas kontaminiert. Auch heute sind die Folgen selbst in Deutschland vereinzelt noch spürbar.

Tschernobyl: Atomunglück belastet Zeitzeugen und Politik

Freizeitparkruine in Pripyat, Ukraine: m April 1986 explodierte der Block vier im damals noch sowjetischen Kraftwerk Tschernobyl. Der Unfall gilt als die größte Atomkatastrophe der zivilen Nutzung der Kernkraft. (Bild: Getty).
Freizeitparkruine in Pripyat, Ukraine: m April 1986 explodierte der Block vier im damals noch sowjetischen Kraftwerk Tschernobyl. Der Unfall gilt als die größte Atomkatastrophe der zivilen Nutzung der Kernkraft. (Bild: Getty).

Auch wenn die meisten Nahrungsmittel hierzulande mittlerweile wieder bedenkenlos verzehrt werden können, treten bei Pilzen und Wild auch noch knapp 40 Jahre nach der Katastrophe noch hohe Cäsium-Werte auf. In Bayern weisen laut dem Bundesamt für Strahlenschutz bestimmte Pilzarten noch immer eine starke Strahlenbelastung von 2.400 Becquerel auf.

Beim üblichen Verzehr von 250 Gramm Wildpilzen pro Woche bestehe jedoch keine Gefahr für die Gesundheit. Bis heute wird etwa in Bayern Wildschweinfleisch getestet, bevor es in den Handel kommt.

Fukushima: Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan im März 2011

Foto vom 6. März 2023: Kernkraftwerk Fukushima Daiichi in Futabacho, Futabagun, Präfektur Fukushima, Japan (Bild: Getty Images)
Foto vom 6. März 2023: Kernkraftwerk Fukushima Daiichi in Futabacho, Futabagun, Präfektur Fukushima, Japan (Bild: Getty Images)

Kurz vor dem geplanten deutschen Atomausstieg hat Bundesumweltministerin Steffi Lemke das havarierte japanische Atomkraftwerk Fukushima Daiichi besucht. "Ich bin durch entvölkerte Landstriche gefahren, um zu dem Atomkraftwerk zu gelangen, das 2011 von einem Tsunami getroffen wurde", sagte die Grünen-Politikerin der Deutschen Presse-Agentur.

25 Jahre nach Tschernobyl ereignete sich in Japan die weltweit zweite atomare Katastrophe der Stufe 7.

Das Kernkraftwerk Fukushima Daiich wurde am 11. März 2011 schwer beschädigt, nachdem sich vor der japanischen Küste ein schweres Erdbeben gefolgt von einem Tsunami ereignete.

Das Wasser der bis zu 15 Meter hohe Tsunamiwelle brach auch über das AKW mit seinen sechs Atomreaktoren herein. Das Kühlsystem des Kernkraftwerk fiel aus, was zur Freisetzung von radioaktivem Material führte.

Unmittelbare Folgen

Die Zahl der Todesopfer durch die direkten Auswirkungen der Katastrophe von Fukushima wird auf etwa 22.000 Menschen geschätzt. In Folge des Erdbebens starben in Japan mehr als 19.000 Menschen, 2.500 gelten noch als vermisst. Es kam zu etwa 1.600 stressbedingten Todesfällen, vor allem bei älteren Menschen. Aufgrund der lokalen atomaren Verseuchung mussten etwa 160.000 Menschen umgesiedelt werden.

Während sich die radioaktive Strahlung von Tschernobyl in ganz Europa ausbreitete, gelangte ein Großteil der Strahlung von Fukushima in den Pazifischen Ozean. Das sei "mit Abstand das Beste, was der Menschheit passieren konnte. Wenn man davon absieht, man hätte den Unfall vermeiden können“, erklärte Georg Steinhauser, Professor für Physikalische Radioökologie an der Leibniz Universität Hannover, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk zum 10. Jahrestag der Katastrophe.

Folgen heute

 Viele Menschen weitere leiden noch heute unter Traumata, bei Kindern treten zudem vermehrt Schilddrüsenerkrankungen auf. Im Oktober 2015 bestätigte das japanische Gesundheitsministerium offiziell den ersten Leukämiefall eines Arbeiters in der havarierten Atomanlage, der in direktem Zusammenhang mit dem Unglück steht. Nach Angaben eines UN-Expertengremiums hat der Vorfall in der japanischen Bevölkerung zu keinen statistisch nachweisbaren Schäden durch Verstrahlung geführt.

Aufgrund der Kontamination der Umgebung geführt kann man die Sperrzone rund um das Kraftwerk bis heute nur mit Sondergenehmigung in Schutzkleidung und mit Dosimeter betreten.

Weitere Atomunfälle in kerntechnischen Anlagen

Statistik: Atomunfälle nach Bewertung auf der INES-Skala weltweit in den Jahren 1957 bis 2011 | Statista
Statistik: Atomunfälle nach Bewertung auf der INES-Skala weltweit in den Jahren 1957 bis 2011 | Statista


Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

Die INES-Skala von der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) und der Nuclear Energy Agency (NEA) soll eine nachvollziehbare Bewertung für einen sicherheitstechnischen Störfall liefern. Auf der IAEO-Skala finden sich nur Unfälle in Nuklearanlagen wieder, Atombombenabwürfe wie Hiroshima und Nagasaki in Japan werden hier nicht erfasst.

Teures Erbe: Rückblick auf 60 Jahre Kernenergie in Zahlen

Kyschtym/Majak, UdSSR Kyschtym (1957)

Während die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl weltweit bekannt ist, ist vielen der Kyschtym-Unfall aus dem Jahr 1957 weniger geläufig, was auch daran liegt, dass dieser erst Jahre später bekannt wurde. Dabei gilt er als drittgrößter atomarer Unfall der Geschichte, nach Tschernobyl und Fukushima. In der Anlage, in der die Sowjetunion spaltbares Plutonium für Atomwaffen herstellten konnte, explodierte ein Tank mit hochradioaktiven Flüssigkeiten.

Augenzeugen konnten die Explosion hunderte Kilometer entfernt als leuchtender Schein sehen. In Sowjet-Zeitungen hieß es deshalb, es habe sich um ein Polarlicht oder Wetterleuchten gehandelt. Erst 1989 wurde der Unfall von der Führung im Kreml bestätigt. Bekannt wurde er erst 1976 durch einen emigrierten Wissenschaftler.

Folgen

 Es wird geschätzt, dass Tausende von Menschen in der Umgebung betroffen waren, aber verlässliche Zahlen zu Opfern gibt es bis heute nicht. Es wird davon ausgegangen, dass 1000 Menschen starben und 10 000 verstrahlt wurden. Bis heute gilt ein 300 Kilometer langer und bis zu 40 Kilometer breiter Landstreifen als verseucht.

Sellafield/Windscale, Nordengland (1957)

Atom Reaktor Windscale (Bild: Getty Images)
Atom Reaktor Windscale (Bild: Getty Images)

Als erster großer Atomunfall überhaupt gilt Sellafield. Es ist die größte Atom-Katastrophe in Großbritannien. Die Atomanlage in Nordengland gehört zu den ältesten der Welt und hieß ursprünglich Windscale.

In einem Reaktor zur Herstellung von Bombenplutonium brach am 10. Oktober 1957 ein Feuer aus. Es wurde dort waffentaugliches Plutonium für den Bau britischer Atombomben produziert.

Nachdem der Reaktorkern sich entzündet hatte, verseuchten radioaktive Gase ein Gebiet von mehreren hundert Quadratkilometern. Eine radioaktive Wolke wurde freigesetzt, die sich über ganz Europa verteilte. Die Löscharbeiten des Brands zogen sich über vier Tage hin. Die britische Regierung wollte die Schwere des Vorfalls lange offenbar herunterspielen. Offiziell liegt die Zahl der Opfer bei mehr als 30 Toten, mehr als 200 Fälle von Schilddrüsenkrebs wurden bekannt.

Später wurde der Reaktor zur Wiederaufarbeitungsanlage ausgebaut und in Sellafield umbenannt.

Kernkraftwerk Three Mile Island/Harrisburg, Pennsylvania (1979)

Ein Blick auf das Kernkraftwerk Three Mile Island: Am 28. März 1979 ereignete sich eine Kernschmelze in Reaktor 2, der dabei zerstört wurde. (Bild: Getty)
Ein Blick auf das Kernkraftwerk Three Mile Island: Am 28. März 1979 ereignete sich eine Kernschmelze in Reaktor 2, der dabei zerstört wurde. (Bild: Getty)

Dieser Vorfall gilt als der bisher schwersten Atomunfall in den USA sowie der schwerste bekannt gewordene Störfall in der Geschichte der Atomindustrie vor Tschernobyl. Es war außerdem der erste Unfall, bei dem es zu einer partiellen Kernschmelze kam.

Am 28. März 1979 kam es im Kernkraftwerk in Harrisburg zu einer Teilreaktor-Schmelze, woraufhin radioaktives Material freigesetzt wurde die Umgebung erheblich kontaminierte. Die radioaktive Wolke wurde noch in mehreren hundert Kilometer Entfernung gemessen und mehr als 200.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen.

Laut Berichten der World Nuclear Association und der Columbia University führte die Katastrophe zu keinen Todesfällen, Verletzungen oder gesundheitlichen Auswirkungen. Anwohner zweifelten die Ergebnisse jedoch an.

Laut Medienberichten sollen rund 36.000 Menschen im unmittelbaren Umkreis des Atomkraftwerks gelebt haben, als es zu dem Unfall kam.

Mehr zum Thema: Wie gut sind wir auf eine Nuklearkatastrophe vorbereitet?

Vor der Abschaltung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke am Samstag dringen SPD und Grüne auf mehr Tempo bei der Endlagersuche für Atommüll. (Grafik: dpa)
Vor der Abschaltung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke am Samstag dringen SPD und Grüne auf mehr Tempo bei der Endlagersuche für Atommüll. (Grafik: dpa)

Tokaimura/Japan (1999)

Luftaufnahme von 1999:  In Tokaimura, Präfektur Ibaraki, ist am 30. September ein Strahlungsleck aufgetreten ist (Bild: Getty Images)
Luftaufnahme von 1999: In Tokaimura, Präfektur Ibaraki, ist am 30. September ein Strahlungsleck aufgetreten ist (Bild: Getty Images)

In Japan kam es bereits Ende der 90er Jahre zu einem atomaren Zwischenfall. Als Ursache gilt menschliches Versagen. Im September 1999 setzte in der etwa 100 Kilometer nordöstlich von Tokio gelegenen Brennelemente-Fabrik Tokaimura eine unkontrollierte Kettenreaktion ein, nachdem ein Tank falsch gefüllt wurde. In der Folge trat starke radioaktive Strahlung aus. Zwei von drei schwer verstrahlten Arbeitern starben einige Zeit später. Mehrere hundert Anwohner wurden kontaminiert.

Auf der INES-Skala für nukleare Ereignisse wurde der Unfall der Kategorie 4 (Unfall mit lokalen Konsequenzen) zugeordnet.

Goiânia, Brasilien (1987)

Die brasilianische Stadt Goiânia (Bild: Getty).
Die brasilianische Stadt Goiânia (Bild: Getty).

Ein Unfall mit radioaktivem Material in Brasilien führte im Jahre 1987 zur Freisetzung von Cäsium-137 in der Umgebung in der brasilianischen Stadt Goiânia. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) stuft diesen Vorfall als bisher größten radiologischen Unfall weltweit ein.

Am 13. September 1987 wurde in der Stadt ein medizinisches Gerät zur Strahlentherapie aus einer stillgelegten Klinik gestohlen. Die Diebe verteilten das darin enthaltene radioaktive Material an Freunde und Bekannte. Dadurch wurden hunderte Menschen teilweise schwer radioaktiv kontaminiert. Offiziell wurden vier Todesfälle nachweislich binnen weniger Wochen mit der Verstrahlung in Verbindung gebracht. Es wird jedoch von viel mehr Todesfällen ausgegangen.

Teile der Stadt sind bis heute radioaktiv belastet.

Unsere Quellen

Video: Ende der Atomkraft in Deutschland – so geht es jetzt weiter