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Tour-Kommentator Florian Naß: "Die Deutschen haben dem Radsport das Dopen übel genommen"

Bewährtes Tour de France-Duo im Ersten: ARD-Radsport-Experte Florian Naß (rechts) und der ehemalige Radprofi Fabian Wegmann kommentieren auch in diesem Jahr wieder das größte Radrennen der Welt. (Bild: Florian Naß)
Bewährtes Tour de France-Duo im Ersten: ARD-Radsport-Experte Florian Naß (rechts) und der ehemalige Radprofi Fabian Wegmann kommentieren auch in diesem Jahr wieder das größte Radrennen der Welt. (Bild: Florian Naß)

Ab Freitag "rollt" die Tour de France 2022 - drei erste Etappen führen durch Dänemark. ARD-Tourstimme Florian Naß, 54, erzählt im Interview über Besonderheiten des diesjährigen Rennens, seinen verrückten Tagesablauf, aktuelle Doping-Debatten und die Enttäuschung der Deutschen nach Jan Ulrichs Fall.

Florian Naß ist eine der sympathischsten Sportstimmen Deutschlands. Dem gebürtigen Frankfurter hört man die Begeisterung für den Sport in jeder Sekunde seiner Reportage an, weshalb der 54-Jährige mehrfach in seiner Karriere für Trophäen wie den Deutschen Fernsehpreis nominiert war. Neben großen Handball-Dramen und sechs Olympischen Spielen, von denen Naß berichtete, kennt man seine Stimme vor allem von der Tour de France. Seit 1997 ist er auf der großen Frankreich-Schleife als Reporter dabei, seit 2006 kommentiert er sie live fürs Erste. In diesem Jahr berichtet Naß ab Freitag, 1. Juli, von der Tour 2022 (16.30 Uhr, auf ONE oder im Livestream auf sportschau.de und ARD Mediathek und ab Samstag, 2. Juli, im Ersten). Im Interview beschreibt der Radsport-Experte der ARD, wie er sich auf das größte Zweirad-Rennen der Welt vorbereitet, wie man es über drei Wochen durchhält und warum er tatsächlich glaubt, dass die Fahrer heute sehr viel "sauberer" und dennoch schneller unterwegs sind. Auch das Interesse der Deutschen, das anders funktioniert als in anderen Radfahr-Nationen, nimmt der Sportjournalist kritisch unter die Lupe.

teleschau: Sie kommentieren die Tour de France seit 2006 live. Kennen Sie mittlerweile jede Straßenkreuzung in Frankreich?

Florian Naß: Das wäre schön, ist aber nicht zu schaffen. Nein, tatsächlich brauche ich einen vollen Arbeitstag, um mich auf eine Etappe vorzubereiten. Diese Zeit nehme ich mir. Es geht um Geschichte, Sehenswürdigkeiten, politische Besonderheiten. Ich habe einen großen Fundus regionaler Reiseführer, die ich ausschlachte. Aber ich rufe auch schon mal beim Bürgermeister eines kleinen Ortes in den Pyrenäen an und frage ihn, ob sein Dorf tatsächlich 93 Einwohner hat, so wie es bei Wikipedia steht. Und ob die dortige Grundschule tatsächlich nur fünf Kinder besuchen (lacht).

teleschau: Sie haben jetzt die eigentliche, sportliche Recherche gar nicht erwähnt ...

Naß: Das Wissen über die Fahrer, die Teams, den Radsport - das ist für mich Jahresarbeit. Davon schalte ich ebenso niemals ab, wie vom Handball oder Fußball. Man hat Kontakte zu den Fahrern, sportlichen Leitern, besucht die einschlägigen Websites. Das alles beobachte ich das ganze Jahr über. Erst am Mittwoch vor dem Start müssen die Teams ihre Fahrer präsentieren. Allerdings gibt es zuvor schon deutliche Hinweise darauf, wer fahren wird. Das sieht man an der Besetzung der Rennen vor der Tour de France.

Der gebürtige Frankfurter Florian Naß ist seit 1997 als Sportjournalist bei der Tour de France dabei und seit 2006 deren Stimme in der ARD. Auch 2022 wird er wieder die Tour-Primetime fürs Erste kommentieren. (Bild: Florian Naß)
Der gebürtige Frankfurter Florian Naß ist seit 1997 als Sportjournalist bei der Tour de France dabei und seit 2006 deren Stimme in der ARD. Auch 2022 wird er wieder die Tour-Primetime fürs Erste kommentieren. (Bild: Florian Naß)

"Das Adrenalin pumpt dann noch mal ganz anders "

teleschau: Wie sieht bei Ihnen ein typischer Arbeitstag während der Tour aus?

Naß: Das kann ich Ihnen fast auf die Minute genau schildern. Morgens um sieben geht es mit einer virtuellen Presseschau los. Ich lese, was andere schreiben. Dann ein schnelles Frühstück, mir schnell noch die Sportzeitung "L'Équipe" organisieren und dann auf die Strecke. Jeden Teil der Etappe, die ich kommentiere, fahre ich am Vormittag mit dem Auto ab. Das dürfen nur akkreditierte Fahrzeuge. Im Ziel gibt es dann eine Redaktionssitzung, meist gegen 12 Uhr. Danach beobachte ich die komplette Etappe, die ja von Beginn an übertragen wird, aber ich steige erst die letzten anderthalb bis zweieinhalb Stunden mit ein. Die kommentiere ich von der Ziellinie bis zum Schluss, mache dann noch eine Zusammenfassung und habe gegen 19.30 Uhr Feierabend. Etwa um 22 Uhr bin ich dann im nächsten Hotel.

teleschau: Warum ist das Abfahren der Strecke so wichtig?

Naß: Nur wenn man an einem Ort selbst gewesen ist, kann man den Menschen am Fernseher erzählen, wie es dort wirklich ist. Wo Gefahrenstellen sind, wo der Wind reinpeitscht. Natürlich könnte man den ganzen Job auch von einem Studio aus erledigen, aber das ist nicht mein Verständnis vom Kommentieren eines Radrennens oder von Sportreportage überhaupt.

teleschau: Und dass Sie von der Ziellinie aus kommentieren, ist auch fester Standard bei Radrennen?

Naß: Ja, das ist eigentlich immer so. Es gibt eine große, zweistöckige Kommentatoren-Kabine. Oben sitzen die Radiokollegen, unten wir vom Fernsehen. Im Idealfall befinde ich mich fünf Meter von der Ziellinie entfernt, und das macht etwas mit einem! Das Adrenalin, wenn es um die Entscheidung der letzten Meter geht, pumpt dann noch mal ganz anders. Man kann beim Blick aus dem Fenster übrigens viel besser erkennen, wer einen Zielsprint gewonnen hat, als wenn es auf dem Monitor verfolgt.

Die Tour de France 2022: Auch wenn es keine deutschen Favoriten gibt, erwarten Experten eine spannende, sehr schwere, aber auch schöne Tour mit vielen Highlight-Etappen. Die ARD, Europort und gewissermaßen auch Netflix "übertragen". (Bild: )
Die Tour de France 2022: Auch wenn es keine deutschen Favoriten gibt, erwarten Experten eine spannende, sehr schwere, aber auch schöne Tour mit vielen Highlight-Etappen. Die ARD, Europort und gewissermaßen auch Netflix "übertragen". (Bild: )

"Wenn ich morgens bei der Streckenbesichtigung ein schönes Café sehe, halte ich da an"

teleschau: Wie anstrengend ist es, über drei Wochen jeden Tag zwei oder zweieinhalb Stunden eine Tour de France-Etappe zu kommentieren?

Naß: Na ja, das ist jeden Tag ein Fußballspiel mit Verlängerung. Und trotzdem verfliegt die Zeit. Es liegt zum einen daran, dass ich nicht alleine kommentiere, sondern mit Fabian Wegmann, einem ehemaligen Radprofi, mit dem ich das sehr gern mache. Und natürlich ist es ein Unterschied, ob man zwei Stunden in der Kölnarena vor 22.000 ein Handballspiel kommentiert oder vor 60.000 in einem Fußballstadion gegen die Kulisse anschreit, oder ob man an der Ziellinie eines Radrennens sitzt. Bei Letzterem muss man ja häufig nur ganz am Ende laut werden (lacht).

teleschau: Gibt es Tricks, wie Sie sich auf der Tour fit halten?

Naß: Ich sitze beim Kommentieren immer auf einer hohen Kiste - ohne Lehne. Da lege ich mir noch eine Decke drauf, das ist mein Arbeitsplatz. Auf einem Stuhl hätte ich nicht die richtige Körperspannung, das habe ich ausprobiert. Auf der Kiste sitze ich dagegen sehr aufrecht und habe Druck auf der Stimme. Ich habe mir nach 25 Jahren auf der Tour angewöhnt, mich keinem Stress mehr auszusetzen. Wenn ich morgens bei der Streckenbesichtigung am Straßenrand ein schönes Café sehe, halte ich da an. Dann trinke ich einen Kaffee und ein Wasser - und unterhalte mich auch mal mit den Menschen dort, was sie über die Tour de France denken. Das ist vor allem Entspannung, bringt aber dennoch auch inhaltlich etwas für die Arbeit.

teleschau: Haben Sie wie manche Fahrer auch mal schlechte Tage, an denen Sie außer Form sind?

Naß: Nein, ich spüre da keinen großen Unterschied. Aber natürlich freue ich mich auf die Ruhetage, die dann idealerweise auch keine Transfer-, also Reisetage sind. Es ist natürlich viel Autofahrerei. Wir werden in diesem Jahr sicher achteinhalb tausend Kilometer auf dem Tacho haben. Das liegt am Start in Dänemark und nach Tag drei gibt es dann noch einen Transfertag, an dem wir vom Süden Dänemarks bis nach Calais fahren müssen.

2022 sind zwei Slowenen die Favoriten der Tour de France: Tadej Pogacar (Sieger 2021 und 2020) vom Team Emirates sowie Primož Roglič vom niederländischen Team Jumbo-Visma. (Bild: Getty Images)
2022 sind zwei Slowenen die Favoriten der Tour de France: Tadej Pogacar (Sieger 2021 und 2020) vom Team Emirates sowie Primož Roglič vom niederländischen Team Jumbo-Visma. (Bild: Getty Images)

"Es ist eine schwere, aber tolle Tour"

teleschau: Wie schätzen Sie die Tour de France 2022 ein?

Naß: Es ist für mich die packendste, herausforderndste, schönste, vielleicht auch schwerste Tour, die ich persönlich seit 1997 gesehen habe. Sie beginnt mit drei Tagen in Dänemark, wo die Tour noch nie war. Das ist ein absolut Radsport-begeistertes Land. Ich bin mir sicher, beim Zeitfahren in Kopenhagen werden Menschenmassen die Straßen säumen. Danach kommen zwei Flachetappen mit spektakulären Bildern, zum Beispiel wenn es über die Großer Belt-Brücke geht. Allerdings ist Wind ein großes Thema in Dänemark. Da kann es schon auf der zweiten Etappe zu gewaltigen Verwerfungen kommen, je nach Windsituation.

teleschau: Danach geht es im Norden Frankreichs weiter. Es wird ein Teilstück der berühmten Kopfsteinpflaster-Rampe von Paris-Roubaix gefahren ...

Naß: Ja, es sind zwar nur etwa 20 statt der etwa 50 Kopfsteinpflaster-Kilometer von Paris-Roubaix, aber die reichen komplett aus, um die Fahrer nervös zu machen. Alle ambitionierten Teilnehmer des Feldes werden versuchen, möglichst vorne zu fahren, denn auf Kopfsteinpflaster wurden schon mehrere Touren durch Stürze verloren. Man kann zurecht darüber streiten, ob diese gefährlichen Passagen unbedingt sein müssen, aber diese Straßen sind eben auch ein Teil Frankreichs.

teleschau: Die Tour ist dieses Jahr in vier Ländern!

Naß: Das stimmt, von Nordfrankreich geht es kurz nach Belgien und später in die Schweiz mit einer Zielankunft in Lausanne. Danach die Alpen mit Alpe d'Huez, zweimal über den Col du Galibier, das Zentralmassiv mit der Radsportstadt St. Etienne, wo die meisten Rennräder Frankreichs hergestellt wurden, und die Pyrenäen. Schließlich noch ein Zeitfahren im Felsennest von Rocamadour vor dem Finale in Paris. Es ist eine schwere, aber tolle Tour.

Hier wollen sie alle ankommen: Die Ziellinie auf den Champs-Élysées in Paris. Dieses Foto entstand 2020, als die Tour von der Corona-Pandemie gebeutelt wurde und erst Ende August und im September stattfand. (Bild: 2020 Getty Images/Kiran Ridley)
Hier wollen sie alle ankommen: Die Ziellinie auf den Champs-Élysées in Paris. Dieses Foto entstand 2020, als die Tour von der Corona-Pandemie gebeutelt wurde und erst Ende August und im September stattfand. (Bild: 2020 Getty Images/Kiran Ridley)

"Früher wurde fast flächendeckend gedopt"

teleschau: Wer sind für Sie die Favoriten?

Naß: Ich denke, die beiden Slowenen werden den Sieg unter sich ausmachen. Tadej Pogacar, der Sieger 2021 und 2020 vom Team Emirates, das sich noch mal deutlich verstärkt hat, sowie Primož Roglič vom niederländischen Team Jumbo-Visma. Während sich Pogacar bei typischen Vorbereitungsrennen wie der Tour de Suisse oder Dauphiné-Rundfahrt rar machte, zeigte sich Roglič zuletzt in starker Form. Es sind Nuancen, die den Unterschied zwischen den beiden ausmachen, aber genau da hat Pogacar einen leichten Vorteil.

teleschau: Und wie sehen Sie die Deutschen?

Naß: Man darf sehr gespannt auf das Team von Bora-hansgrohe sein. Immerhin hat man in diesem Frühjahr mit dem Australier Jai Hindley den Giro d'Italia gewonnen. Bei der Tour wird der Russe Alexandr Vlasov derjenige sein, für den die anderen fahren. Vielleicht schafft er es sogar aufs Podium, wenn es optimal läuft. Platz drei könnte ich mir tatsächlich vorstellen. Russische und Belarussische Fahrer dürfen ja bei der Tour starten, aber keine "landestypischen" Symbole zeigen, auch ihre Hymnen werden nicht gespielt.

teleschau: Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Pogacar und Roglič?

Naß: Das ist absolut gut, herzlich. Man sieht es auch auf der Strecke.

teleschau: Ist es nicht komisch, dass ein so kleines Land die besten Radsportler ihrer Generation hervorbringt?

Naß: Ja, aber das hatten wir früher auch schon, dass Fahrer aus bestimmten Ländern dominierten. Da gab es die Zeit der Spanier, dann die der Briten mit Wiggins, Froome, Thomas und dem Team, das jetzt Ineos heißt. Auch die Deutschen haben mal bei der Tour de France alles in Grund und Boden gefahren. Genau das macht natürlich skeptisch.

teleschau: Sie meinen, in dieser Zeit wurde dort am fortschrittlichsten gedopt?

Naß: Ich wehre mich immer gegen diesen Generalverdacht. Auch weil ich sicher bin, dass der Radsport sich verändert hat, unter anderem durch die nun geltenden Regeln. Das war früher anders. Da wurde fast flächendeckend gedopt. Wir sind Journalisten und müssen Indizien nachgehen. Bis etwas bewiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung.

Slowenische Radsport-Fans an der Ziellinie auf den Champs-Élysées im Jahr 2020. Werden sie 2022 Tadej Pogacar (Sieger 2021 und 2020) oder Primož Roglič bejubeln können? (Bild: 2020 Getty Images/Kiran Ridley)
Slowenische Radsport-Fans an der Ziellinie auf den Champs-Élysées im Jahr 2020. Werden sie 2022 Tadej Pogacar (Sieger 2021 und 2020) oder Primož Roglič bejubeln können? (Bild: 2020 Getty Images/Kiran Ridley)

Fahrer sind "teilweise schneller" als damals Armstrong und Ullrich

teleschau: Aber welche Indizien gibt es, um einen Doping-Verdacht zu erhärten?

Naß: Gewaltige Leistungssprünge vor allem. Man muss auch kritisch auf das Umfeld der Fahrer schauen. Wer betreut dieses Teams, was haben diese Ärzte für eine Vergangenheit? Ich spreche auch mit Sportwissenschaftlern, ob bestimmte Leistungs-Explosionen ohne Doping möglich sind. Und solange man mir sagt, dass eine Performance zwar nahe dran ist an der perfekten Leistung aufgrund von Training, aber eben nicht mehr, gilt weiterhin die Unschuldsvermutung. Natürlich muss ich mich auch immer darüber informieren, was aktuell machbar ist. Da geht es um Gen-Doping und schwer nachweisbare Mikro-Dosen. Auch das gehört zum Job dazu.

teleschau: Glauben Sie wirklich, dass früher - zur Zeit von Jan Ullrich und Lance Armstrong - alle Fahrer gedopt waren?

Naß: Nein, auch damals nicht. Da bin ich mir sicher. Allerdings gab es zu jener Zeit ein "System Doping", das den Radsport maßgeblich beeinflusste. Ich glaube, das ist heute anders. Dass es weiter Versuche und Strategien gibt, um zu betrügen, das ist klar. Alles andere wäre naiv zu glauben. Aber es wird aktuell sehr wissenschaftlich gearbeitet und man muss auch anerkennen, dass sich der Radsport harte Regeln auferlegt hat. Das war alternativlos. Ein "Fitspritzen" für die Tour ist schlicht verboten. Das ist beim Tennis, um ein Beispiel zu nennen, anders. Ich freue mich immer, wenn ein Fahrer nach einer bärenstarken, aber fordernden Etappe am nächsten Tag einen Einbruch erleidet. Nicht, weil ich ihn verlieren sehen möchte, sondern weil es ein Zeichen von Menschlichkeit ist.

teleschau: Wird heute langsamer gefahren als zu Zeiten von Armstrong und Ulrich?

Naß: Nein, etwa genauso schnell. Teilweise sogar schneller. Das liegt am unglaublichen Voranschreiten der Trainingswissenschaften, da hat sich eine Menge getan. Früher fuhren die Profis riesige Umfänge, jeden Tag 180 Kilometer im Training. Heute trainiert man ganz anders, gezielter. Dafür spielt Ernährung eine Riesenrolle. Es gibt tatsächlich viele Weiterentwicklungen seitdem.

Fans auf dem Plateau des Glieres am 17. September 2020 in Petit-Bornand-les-Glieres. Damals eine der landschaftlich wohl spektakulärsten Etappen. Auch in diesem Jahr wird mit fantastischen Aussichten laut Streckenplan nicht gegeizt. (Bild: 2020 Getty Images/Julien Goldstein)
Fans auf dem Plateau des Glieres am 17. September 2020 in Petit-Bornand-les-Glieres. Damals eine der landschaftlich wohl spektakulärsten Etappen. Auch in diesem Jahr wird mit fantastischen Aussichten laut Streckenplan nicht gegeizt. (Bild: 2020 Getty Images/Julien Goldstein)

"Wenn die Deutschen enttäuscht sind, sind sie nachtragend"

teleschau: Wie sehen Sie das aktuelle Interesse der Deutschen am Radsport im Vergleich zu früher?

Naß: Wir hatten nach dem Skandal um Jan Ullrich und dem Team Telekom, aber auch beim Team Gerolsteiner, gravierende Einbußen. ARD und ZDF sind danach ja auch ein paar Jahre aus der Live-Berichterstattung der Tour ausgestiegen. Die Deutschen haben dem Radsport das Dopen übel genommen. Mehr als andere Nationen übrigens. Aber eben auch erst dann, als das deutsche Vorzeige-Team selbst betroffen war. Der Riesenskandal um das Festina-Team und viele andere Mannschaften 1998 hat die Deutschen damals wenig interessiert. Die Quoten blieben stabil. Im Gegenteil - sie stiegen sogar. Doch nach 2006 gingen sie dann in den Keller.

teleschau: Wo liegen denn die Quoten aktuell?

Naß: Wir haben rund zehn Prozent Marktanteil, das sind etwa 1,2 Millionen Zuschauende pro Tag. Am Wochenende und bei den besonders spektakulären Etappen sind es natürlich erheblich mehr. Das bedeutet immer noch ein gutes Zuschauerinteresse. Zu Hochzeiten des Duells Armstrong gegen Ullrich waren es aber auch schon mal sechs oder sieben Millionen, die bei den entscheidenden Etappen zuschauten. Das waren dann Marktanteile von über 30 Prozent.

teleschau: Und aus dem Keller kommt man nicht mehr raus?

Naß: Es ist schwer, die Menschen wieder neu einzufangen. Das liegt natürlich auch daran, dass wir aktuell keinen deutschen Fahrer haben, der um den Sieg mitfährt. In anderen Ländern ist das anders. Dort wird Radsport geschaut, und es ist nicht so wichtig, aus welchem Land ein Fahrer kommt. Die Franzosen warten seit den 80er-Jahren auf einen Tour-Sieger, doch das tut ihrer Begeisterung für den Sport keinen Abbruch. Ebenso ist es in Belgien oder Italien. Doch selbst, wenn jetzt ein neuer Jan Ullrich kommen würde - die Deutschen wären nicht mehr so enthusiastisch wie damals, glaube ich.

teleschau: Warum so skeptisch?

Naß: Wenn die Deutschen enttäuscht sind, dann sind sie nachtragend. Das tut mir vor allem für die Generation der Fahrer leid, die das ausbaden muss: die Kittels, Degenkolbs. Denen hat zu ihrer besten Zeit diese breite Öffentlichkeit gefehlt, die sie eigentlich verdient gehabt hätten. Auch, weil sie sehr glaubhaft für einen sauberen Sport eingetreten sind. Ein Fahrer wie Maximilian Schachmann mahnt das zu Recht an.

Ein Duell der Tour de France von 2020 zwischen Sepp Kuss (Nummer 16) and Primos Roglic (Nummer 11) am Col de la Loze in Meribel, Frankreich. Aufgrund der Corona-Beschränkungen in jenem Jahr wurde die Anwesenheit von Fans an der Strecke begrenzt - beziehungsweise deutlich "erschwert". (Bild: 2020 Getty Images/Julien Goldstein)
Ein Duell der Tour de France von 2020 zwischen Sepp Kuss (Nummer 16) and Primos Roglic (Nummer 11) am Col de la Loze in Meribel, Frankreich. Aufgrund der Corona-Beschränkungen in jenem Jahr wurde die Anwesenheit von Fans an der Strecke begrenzt - beziehungsweise deutlich "erschwert". (Bild: 2020 Getty Images/Julien Goldstein)