Wie sich Deutschland leise von der Willkommenspolitik verabschiedet

Demonstration gegen Abschiebungen nach Afghanistan in Dresden (Bild: dpa)
Demonstration gegen Abschiebungen nach Afghanistan in Dresden (Bild: dpa)

Das Ausland lobt die Kanzlerin für die offenen Grenzen – von anno dazumal. Still fährt man in Berlin einen ganz anderen und zynischen Kurs.

Ein Kommentar von Jan Rübel

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Boris Palmer ist studierter Mathematiker, er hat es mit Zahlen. Und der grüne Oberbürgermeister von Tübingen sieht sich in einer Mission: in der des Ansprechens unbequemer Wahrheiten. In Zeiten so genannter Alternativer Fakten ein wichtiges Unterfangen, hielte Palmer auch Maß. Aber er tut das nicht. Er erkennt nämlich, in guter marxistisch-avantgardistischer Tradition, unbequeme Wahrheiten, wo keine sind. Resultat dieser Manie ist zum Beispiel ein komisches Zahlenspiel, welches Palmer gerade entwirft, um die Frage von Abschiebungen nach Afghanistan zu erhellen.

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Palmer nimmt sich die Zahlen von Todesopfern durch Gewalt vor – im internationalen Vergleich. „Für Afghanistan kommen auf 30 Millionen Einwohner 5000 zivile Opfer. Das ist eine Rate von 1:6000“, schreibt er auf „Facebook“. „In den USA kommen auf 300 Millionen Einwohner 15000 zivile Mordopfer. Das ist eine Rate von 1:20.000. Also ist das Risiko, in Afghanistan als Zivilist Opfer des bewaffneten Konflikts zu werden etwa dreimal so hoch, wie das in den USA erschlossen zu werden. Das finden die meisten Menschen überraschend. Ist aber so. In Chicago kommen auf 2,7 Millionen Einwohner 700 Mordopfer. Das ist eine Rate von 1:4000. Das ist ein höheres Risiko als im Durchschnitt von Afghanistan.“

Was sagen uns diese Zahlen? Vor allem, dass es in den USA ein Problem mit Schusswaffen gibt. Übrigens wird in Amerika eine intensive Debatte seit Jahren darüber geführt – und es lässt sich auch eingrenzen, wer ein größeres Risiko trägt in Chicago durchlöchert zu werden; ein schwäbischer Tourist gehört eher nicht dazu.

Palmer unternimmt einen legitimen Zahlenvergleich und kommt zu falschen Fragen. Denn die Sicherheitslage in Afghanistan lässt sich faktisch beschreiben: Einen Menschen dorthin abzuschieben ist Zynismus. Das halbe Land ist in stetem Kriegszustand. Die Regierung ist keine und ein Gipfel an Korruption. Warlords kontrollieren das Land. Diplomaten leben in Hotels die gesichert sind wie Fort Knox, verlassen sie zur Arbeit in Autos wie Panzern und kehren nach der Arbeit in einem anderen Fort Knox zum ersten zurück. Zwei Millionen Binnenflüchtlinge leiden dort. Der politische Druck der Taliban, und das fassen Palmers Zahlen ebenso wenig wie die Opfer der aktuellen Winterkälte von nächtlichen minus zehn Grad Celsius, spiegelt sich nicht nur in Todesopfern durch Anschläge, sondern in Drangsalierung von Dorf zu Dorf: Frauen und Männer sollen sich einem mittelalterlichen Strafregime unterwerfen. Das nennt man politische Verfolgung.

Afghanistans Hauptstadt Kabul wird regelmäßig von Selbstmordanschlägen erschüttert (Bild: dpa)
Afghanistans Hauptstadt Kabul wird regelmäßig von Selbstmordanschlägen erschüttert (Bild: dpa)

Dass die Bundesregierung weiter an Abschiebungen nach Afghanistan festhält, lässt sich daher nur mit dem Kalkül erklären, irgendetwas „gegen Flüchtlinge“ zu unternehmen, denn in den Augen nicht weniger ihrer Wähler tut sie ja viel zu viel für diese. Doch dies ist mittlerweile ein Trugschluss.

Wir machen es wie Trump

Abgesehen davon, dass die Bundesregierung – bei gleicher Sicherheitslage am Hindukusch – zum Beispiel im Jahr 2013, also vor der Ankunft der vielen Geflüchteten in Deutschland, wohl kaum auf die Idee gekommen wäre nach Afghanistan abzuschieben: Längst fährt Berlin eine Politik der geschlossenen Grenzen. Nur redet man nicht darüber.

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Empört zeigte sich die Bundesregierung über die Schließung der Balkanroute für Flüchtende. Erleichtert aber wurde dies in deren Hinterzimmern zur Kenntnis genommen. Die Drecksarbeit lassen wir andere verrichten: Während sich die Kriegsschraube in Syrien weiter dreht, hat die türkische Regierung auf Grund eines von Kanzlerin Angela Merkel ausgehandelten „Deals“ die Grenzen verriegelt. Und jene, die es in die Türkei geschafft haben, sitzen dort fest. Was Berlin betreibt, ist im Grund ein Einreisestopp, wie US-Präsident Donald Trump ihn vollzog – nur ohne Worte. Ist eleganter.

Nächtlicher Abschiebeflug nach Afghanistan (Bild: dpa)
Nächtlicher Abschiebeflug nach Afghanistan (Bild: dpa)

Auch an der Südflanke, in Nordafrika, betreibt Berlin aktive Diplomatie: Libyen wird derzeit intensiv bearbeitet, damit bloß nicht wieder über die Mittelmeerroute Flüchtende kommen. Dafür soll die dortige Küstenwache gestärkt werden – in einem Land, in dem Chaos und Gewalt herrschen. Und mit dem Regime in Ägypten wird geliebäugelt, um auch dessen Häfen zu „sichern“. Die Rufe nach mehr Menschenrechten dort sind eine Mischung aus Hilflosigkeit und Berechnung. Offiziell werden die Schlepper an den Pranger gestellt. Das wahre Problem aber sind die miesen Zustände auf der Welt und die davor verschlossenen Augen Europas.

Moralisch gesehen ist diese neue Politik eine Katastrophe. Wir reden nur warm davon, Menschen aus Krisenregionen eine legale Einwanderungsmöglichkeit zu schaffen; tatsächlich geschieht hierzu nichts. Und sollte dies von CDU und CSU aus wahlstrategischen Erwägungen heraus geschehen, dann sollten sie auch dies bedenken: Die Zeiten, in denen Linke oder Liberale Merkel wählen wollten, neigen sich dem Ende zu.

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