Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger steigt - Was uns die Statistiken zur Jugendkriminalität verraten – und was nicht

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Die Entwicklung der Jugendkriminalität in Deutschland scheint Anlass zur Sorge zu geben. Statistikerin Katharina Schüller wirft einen kritischen Blick auf die aktuellen Zahlen und hinterfragt, was sie wirklich über den Zustand unserer Gesellschaft aussagen.

Wie hat sich die Jugendkriminalität in Deutschland in den letzten Jahren entwickelt?

Die „Jugendkriminalität“ zählt alle Tatverdächtigen unter 21 Jahren. Dabei wird zwischen Kindern unter 14 Jahren, Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren und Heranwachsenden von 18 bis 20 Jahren unterschieden. Sie sind nicht voll straffähig und für sie gilt das Jugendgerichtsgesetz (JGG).

Die absolute Zahl der Jugendkriminalität lässt sich der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) entnehmen, die jährlich veröffentlicht wird. Diese absolute Zahl schoss rund um die Jahrtausendwende gewaltig in die Höhe und erreichte im Jahr 1988 ein Allzeithoch von ungefähr 690.000 erfassten Tatverdächtigen. Für die nächsten 20 Jahre zeigt die Kurve einen stabilen Abwärtstrend. Rund um die Flüchtlingskrise, 2015 und 2016, wurden knapp 80.000 Verdächtige mehr erfasst als noch 2014. Seit zwei Jahren steigen die Zahlen wieder drastisch in die Höhe. 2023 wurden insgesamt rund 483.000 Tatverdächtige gezählt, das sind knapp 40.000 oder 9 Prozent mehr als im Vorjahr.

Wie aussagekräftig sind die Statistiken zur Jugendkriminalität in Deutschland?

Alle Zahlen, die wir zur Kriminalität haben, geben nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wieder. Denn die PKS beinhaltet nur die Taten, die bei der Polizei bzw. durch Beamte angezeigt und anschließend in einer Akte an die Staatsanwaltschaft übermittelt wurden. Alles, was nicht angezeigt wurde, fehlt in der Statistik. Aber die Statistik informiert auch nicht darüber, welche der Taten am Ende zu einer Verurteilung geführt haben. Steigt die Bereitschaft, Straftaten anzuzeigen, dann steigt auch die Zahl der Tatverdächtigen. So kann eine steigende Kriminalität auch bedeuten, dass die Dunkelziffer sinkt. Es gibt also einerseits Gründe, warum die Zahlen zu niedrig sind, andererseits Gründe, warum sie zu hoch sind.

Außerdem heißt die Tatsache, dass ein Verdächtiger in einem bestimmten Jahr gezählt wurde, noch lange nicht, dass die Tat in dem Jahr auch begangen wurde – sie kann in Extremfällen auch ein bis zwei Jahre in der Vergangenheit liegen. Wenn das Alter einer verdächtigen Person nicht ermittelt werden kann oder sie bewusst ein falsches Alter angibt, zählt sie entweder fälschlicherweise zur Jugendkriminalität oder zur Erwachsenenkriminalität.

Wie wird Jugendkriminalität mit Migrationshintergrund in den Statistiken erfasst und wie verhält sich diese im Vergleich zur Gesamtzahl?

Personen mit Migrationshintergrund gehen nicht per se in die Statistik der nichtdeutschen Tatverdächtigen ein. Zu dieser Gruppe zählen nämlich „Personen ausländischer Staatsangehörigkeit, Staatenlose und Personen, bei denen die Staatsangehörigkeit ungeklärt ist“. Tatverdächtige Personen, die sowohl die deutsche als auch eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzen, zählen nicht zur sogenannten „Ausländerkriminalität“.

Es fällt auf, dass 2023 mehr nichtdeutsche Kinder, Jugendliche und Heranwachsende unter Tatverdacht standen als 2022. Bei nichtdeutschen Kindern und Jugendlichen ist die absolute Zahl im Vergleich zum Vorjahr um rund 31 Prozent gestiegen, bei den nichtdeutschen Heranwachsenden um 27 Prozent. Unter den deutschen Kindern und Jugendlichen ist der Zuwachs straftatverdächtiger Personen zwar ebenfalls steigend, allerdings wesentlich geringer als bei nichtdeutschen Kindern und Jugendlichen. Die Zahl der straftatverdächtigen deutschen Heranwachsenden ist von 2022 auf 2023 sogar gesunken.

Aber diese prozentuale Betrachtungsweise enthält gleich zwei statistische Fehlschlüsse. Erstens gibt es eine Reihe von Straftaten, die nur Ausländer begehen können, beispielsweise Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz. Durchschnittlich ein Drittel des Zuwachses lässt sich allein durch die Zunahme von solchen ausländerspezifischen Straftaten erklären.

Noch problematischer ist aber, dass die absolute Zahl der Tatverdächtigen zunehmen kann, obwohl sich die Kriminalität nicht ändert – einfach weil die Bevölkerung wächst. Genau das ist hier der Fall. Insgesamt ist der Prozentsatz der Tatverdächtigen unter 21, bezogen auf die Gesamtbevölkerung minimal gestiegen: von 2,4 auf 2,5 Prozent. Das bedeutet, unter 1000 Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden war im Jahr 2023 genau einer mehr tatverdächtig als im Jahr 2022.

Den größten relative Pro-Kopf-Anstieg gab es bei nichtdeutschen Jugendlichen. Unter 1000 14- bis 17-Jährigen nichtdeutscher Herkunft waren 2023 zwölf Tatverdächtige mehr als 2022. In allen anderen Gruppen gab es jeweils in 1000 Personen ein bis zwei Tatverdächtige mehr – und bei den deutschen Heranwachsenden zwischen 18 und 20 sogar zwei je 1000 weniger.

Diese Betrachtungsweise in sogenannten natürlichen Häufigkeiten ist viel einfacher zu verstehen als Prozentzahlen und ein gutes Mittel, um Risiken vergleichbar zu machen.

Werden einzelne Vorfälle von Jugendkriminalität, wie Schlägereien, von den Medien überproportional aufgebauscht?

Hierbei fällt auf, dass insbesondere rechts-nationalistische Medien häufig besonders betonen, dass es sich bei Taten um ausländische Jugendliche gehandelt habe, die Deutsche verprügelten. Titel wie „Fußball-Junge (14) festgehalten und zusammengeschlagen: DAS ist die kranke Gewalt, die wir uns ins Land geholt haben!“ (NIUS, 09.03.2024) sind hier keine Seltenheit. Sucht man hingegen in großen Tages- oder Wochenzeitungen nach Indizien, dass es sich um ausländische Täter gehandelt haben könnte, muss man größtenteils schon bis zum Ende lesen. Die Herkunft wird dann oft in einem Satz am Ende des Textes erwähnt.

Praktisch überall werden die Zahlen ohne Einordnung in den Raum geworfen und interpretiert. Auch die ausländerspezifischen Vergehen werden im Bericht außer Acht gelassen. So heißt es, dass das BKA die Zustände in Flüchtlingsheimen als Grund für die wachsende „Ausländerkriminalität“ in Deutschland identifiziert hätte. Dies wird dann ironisch mit den Worten „bedeutet übersetzt: Weil es in den Aufnahmeeinrichtungen in Deutschland nicht komfortabel genug ist, werden Migranten leichter kriminell …” kommentiert. Dass das BKA neben den Lebensbedingungen auch auf andere Gründe wie psychische Belastungen, Traumata, eigene Gewalterfahrungen durch Krieg erwähnt, bleibt außen vor.

Dazu kommen strukturelle Probleme. Personen ohne eine deutsche Staatsbürgerschaft sind häufig jünger, überwiegend männlich, leben eher in Großstädten, stammen aus unteren Bildungs- und Einkommensschichten und sind im Vergleich häufiger arbeitslos. All diese Aspekte erhöhen das Risiko, straffällig zu werden.

Womöglich spielen gerade bei Heranwachsenden Probleme wie fehlende Deutschkenntnisse und die mangelnde Aufklärung über beispielsweise Arbeits- oder Steuergesetze eine wichtige große Rolle. Dazu kommen Dokumentationsprobleme: Werden Namen oder Anschriften durch Behörden nicht richtig erfasst, dann können amtliche Dokumente nicht zugestellt werden können und es liegt eine Straftat vor, für die der Tatverdächtige nur teilweise verantwortlich ist.

Neben der Tatsache, dass die Zuwanderungsrate im Jahr 2022 stark angestiegen ist, hat vermutlich auch das Ende der Corona-Pandemie, insbesondere der Ausgangssperren, einen Einfluss auf die Jugendkriminalität.

Welche Maßnahmen könnten helfen, die Jugendkriminalität in Deutschland zu reduzieren?

Zunächst gilt: So nachvollziehbar manche der möglichen Gründe für den Anstieg der Jugendkriminalität sind - sie dürfen keine Ausreden sein. Allerdings gilt es, stets das gesamte Bild zu betrachten. Denn auch unter Ziffer 12 des Pressekodex wird betont, dass bereits die Erwähnung der Herkunft von Tätern bei der Berichterstattung von Straftaten Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könne. Man kann darüber geteilter Meinung sein, aber solange Medien nicht in der Lage sind, zwischen absoluten und relativen Veränderungen und den Veränderungen pro Kopf zu unterscheiden, liefern statistische Angaben zur Jugendkriminalität insbesondere nichtdeutscher Tatverdächtiger ein ziemlich verzerrtes Bild. Denn so unfassbar viel, wie manche Berichte glauben lassen, gibt es nicht zu reduzieren.

Um die Jugendkriminalität in Deutschland zu verringern, gibt es keine einfache Lösung, und schon gar keine, die wenig kostet. Es braucht präventive Bildungs- und Freizeitangebote wie Jugendzentren, Sport- und Kulturprogramme. Bessere schulische Bildung und verstärkte Berufsorientierung müssen berufliche Perspektiven für nichtdeutsche Kinder und Jugendliche schaffen. Niemand sagt, dass das leicht ist, gerade wenn ihre Zahl weiter steigt und sie sich in bestimmten Gebieten konzentrieren.

Familienberatung und finanzielle Unterstützung können soziale Risikofaktoren verringern, Sprachkurse für Migranten das Zusammenleben fördern, Community-Policing und Mentorenprogramme das soziale Umfeld stärken. Frühintervention, Resozialisierung und therapeutische Angebote helfen gefährdeten Jugendlichen bei der Bewältigung von Aggressionsproblemen oder Traumata.

Was garantiert keine Lösung bringt, ist das blinde Vertrauen auf unreflektiert veröffentlichte Statistiken, genauso wenig wie das Teilen von manipulativen Informationen. Dazu braucht es mehr Datenkompetenz in der Politik, bei Medien und letztlich bei uns allen.