China-Experte warnt bei "Precht": "Wir können ihnen nicht mehr unsere Regeln diktieren"

Muss der Westen sein Verhältnis zur konkurrierenden Supermacht China neu denken? Der Journalist und Autor Frank Sieren lebt seit fast 30 Jahren in der Volksrepublik. Richard David Precht gewährte er ungewöhnliche Einblicke in eine für uns oft schwer zu verstehende Gesellschaft.

Frank Sieren lebt seit 30 Jahren in China und hat mehrere Bücher über das Riesenreich und die neue Weltmacht verfasst. (Bild: ZDF / Juliane Eirich)
Frank Sieren lebt seit 30 Jahren in China und hat mehrere Bücher über das Riesenreich und die neue Weltmacht verfasst. (Bild: ZDF / Juliane Eirich)

Auch wenn die westliche Welt zurzeit vor allem versucht, Russlands brutalen Imperialismus einzuhegen - langfristig gilt aufgrund von 1,4 Milliarden Menschen und einer enormen Wirtschaftskraft China als entscheidender Konkurrent des hiesigen Wohlstands- und Wertesystems. Aber verstehen wir das Land falsch oder überhaupt nicht? Der Journalist, Autor und Filmemacher Frank Sieren lebt seit fast 30 Jahren in der Volksrepublik. Er hat zahlreiche Bücher über China veröffentlicht und gewährte nun Richard David Precht in dessen ZDF-Philiospie-Talk ("Precht: Die neue Weltordnung. Wie umgehen mit China?") einen fundierten Einblick, wie das Reich der Mitte heute wirklich tickt.

"Eine Epoche geht zu Ende", sagt Sieren nach vier Minuten Gespräch und vergleicht die Europäer und Amerikaner mit dem europäischen Adel des 18. und 19. Jahrhunderts, der damals Macht an das Volk abgeben musste: "Die Epoche, in der die Minderheit des Westens - erst die Europäer, dann die Amerikaner - die Spielregeln der Welt bestimmt haben, geht zu Ende." Jeder fünfte Mensch kommt mittlerweile aus China. Der größte Teil der Weltbevölkerung ist mit 59 Prozent in Asien zu Hause. Gleichzeitig hat sich China als Weltmacht etabliert, und "wir können ihnen nicht mehr unsere Regeln diktieren, sondern müssen versuchen, sie von unseren Ideen im Dialog zu überzeugen", sagt Sieren.

Muss der Westen seine Arroganz gegenüber dem Rest der Welt ablegen oder wird er vielmehr dazu gezwungen? Darüber sprechen Richard David Precht und der Publizist Frank Sieren in
Muss der Westen seine Arroganz gegenüber dem Rest der Welt ablegen oder wird er vielmehr dazu gezwungen? Darüber sprechen Richard David Precht und der Publizist Frank Sieren in

 

Dem Westen droht politischer und wirtschaftlicher Absturz

Womit keineswegs gemeint ist, dass man Grundüberzeugungen wie Menschenrechte zur Disposition stellt. Heikel ist die Lage des Westens vor allem seit der Erkenntnis, dass "unser" Mix aus Demokratie und freier Marktwirtschaft nicht mehr automatisch die größte Zufriedenheit und den größten Wohlstand garantiert. China gelang sein Aufstieg zur derzeit erfolgreichsten, am schnellsten wachsenden Wirtschaftsmacht der Welt mit einer Mischung aus "Raubtierkapitalismus" und Kommunismus, provoziert Precht in der Sendung.

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Allein seit 2003 hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen verzehnfacht. Sieren warnt: Sollte es dem Westen in den nächsten Jahren nicht gelingen, sich den massiven wirtschaftlichen Veränderungen zu stellen und China einen legitimen Platz am Tisch der Mächtigen einzuräumen, so drohe ihm der wirtschaftliche und politische Absturz.

Tatsächlich werden "von zehn Autos, die wir in Deutschland herstellen, vier nach China verkauft", referiert Precht. Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist heute schon sehr groß - beim Export und Import. Nur die Art der Kommunikation des Westens mit China passt Sieren überhaupt nicht: "Wir werfen den Chinesen vor, dass sie nicht genug Mitbestimmung zulassen in ihrem Land. Die Chinesen werfen uns vor, dass wir nicht genug Mitbestimmung global zulassen. Und beides stimmt."

Der China-Kenner Frank Sieren (rechts) zu Gast bei Richard David Precht. (Bild: ZDF / Juliane Eirich)
Der China-Kenner Frank Sieren (rechts) zu Gast bei Richard David Precht. (Bild: ZDF / Juliane Eirich)

 

Wo man in China schon jetzt "moderner ist als hier"

Im Übrigen ist sich Sieren sicher, dass sich der wachsende Wohlstand Chinas auch in größerer persönlicher Freiheit der Menschen dort ausdrücken wird: "Es sind ja auch Menschen - und die werden mit einer gewissen Entwicklungsreife bestimmte Freiheiten einfordern." Ob das 10 bis 20 Jahre oder länger dauert, sei schwer einzuschätzen, so Sieren.

"In China gibt es 1,4 Milliarden Menschen und einige von ihnen leben noch wie im 19. Jahrhundert. Gleichzeitig gibt es Regionen, da ist man moderner als hier." Das neue, hypermoderne "Reich der Mitte" beschrieb Frank Sieren in seinem letzten Buch über das "Silicon Valley" Chinas. "Shenzhen - Zukunft Made in China", ist es betitelt.

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Dass das moderne China irgendwann wie der Westen wird, daran glaubt Sieren dennoch nicht. "Es wird immer stärker an die Gemeinschaft gedacht werden, als hier im Westen. Das ist überall in Asien so." Gleichzeitig mache sich in China, vor allem in den modernen Zentren an der Küste, immer stärker der Wunsch nach einer "Work-Life-Balance" und einem nachhaltigen Leben und Wirtschaften breit, was auch in der neuen Wirtschaftspolitik des Staates deutlich spürbar sei. Tatsächlich ist der vielleicht interessanteste Part des Talks jener, in dem Sieren zu beschreiben versucht, welches Verhältnis die Chinesen selbst zu ihrem Staat, ihrer Führung haben.

Warum wir das Verhältnis der Chinesen zu ihrem Staat falsch einschätzen

"Es ist ein anderes, als wir glauben", erzählt Sieren, "weil sie diesen 40 Jahre langen Aufstieg hinter sich haben. Für die Mehrheit ist dieser Staat eine Institution, die diesen Aufstieg gemanagt hat." Auch das Rechtssystem in China habe sich dramatisch verbessert. Es gäbe zum Beispiel ein modernes Datenschutz-System nach europäischem Vorbild, das jedoch nur im Verhältnis der Industrie zum Individuum gelte, aber (noch) nicht im Verhältnis des Staates zum Bürger.

"Die Möglichkeit, dass der Staat das Recht aushebelt, ist immer noch da." Frank Sierens Credo fasst er gegen Ende des 45-Minuten-Talks noch einmal zusammen: "Was wir lernen müssen, ist, dass es beides gibt: diese noch starken Einschränkungen der persönlichen Freiheit und gleichzeitig die unglaubliche Zunahme an persönlichem Freiraum. Wir müssen lernen, das gleichzeitig zu denken - sonst schätzen wir die Chinesen und die anderen Aufsteiger Asiens falsch ein."

"Precht: Die neue Weltordnung. Wie umgehen mit China?" ist bereits abrufbar in der ZDF-Mediathek. Ausgestrahlt wird die Philosophie-Talk-Ausgabe am Sonntag, 12. Februar, 23.35 Uhr, im ZDF.

VIDEO: Rede zur Lage der Nation: Warnungen an Russland und China