Überraschend im Achtelfinale - Als das Georgien-Wunder wahr ist, erlebt die EM die größte Eruption der Emotion

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Georgien steht im Achtelfinale der Fußball-EMdpa

Freudentränen bei Journalisten, Autokorsos auf Schalke: Georgiens Einzug ins Achtelfinale ist die größte Sensation der Fußball-EM. Im Land der Vilis wird Bayern-Legende Willy Sagnol als Trainer zum Nationalhelden. Wie hat er das gemacht?

Als der Moment kommt, den Tausende von Menschen in weißen Shirts mit roten Kreuzen so herbeigesehnt haben, reicht ein einziger Bruchteil, um alles zu entladen. Wirklich: alles.

Unten auf dem Rasen laufen große Männer, die wieder das Spiel der kleinen Jungs spielen, frenetisch kreuz und quer, sie wissen gar nicht, wohin mit sich. Oben auf der Tribüne ist es dasselbe, und die Eruption der Emotion beschränkt sich nicht auf den Fanblock.

Auf den Presseplätzen reißen Journalisten beim Abpfiff jubelnd ihre Arme empor. Einer macht direkt einen Video-Call in die Heimat – heulend.

26. Juni 2024, Gelsenkirchen. Diese Eckdaten wird Georgien heiligsprechen. „Ernsthaft, ich habe noch nie so viele Männer weinen sehen“, sagte Georgiens Nationaltrainer Willy Sagnol im März, nach der erstmaligen Qualifikation für eine Fußball-Europameisterschaft.

Jubel-Explosion bei den Georgiern<span class="copyright">dpa</span>
Jubel-Explosion bei den Georgierndpa

Am Mittwoch, kurz vor Mitternacht, resümiert er noch etwas ungläubig: „Wir haben ständig auf die Uhr geschaut, fast alle zehn Sekunden. Jetzt fühlen wir uns sehr, sehr leer.“

Georgiens Fußball-Feiertag mitten im Ruhrgebiet

Nach einem 1:3 gegen die Türkei und dem 1:1 gegen Tschechien erreicht Georgien durch ein 2:0 über Portugal beim EM-Debüt prompt das Achtelfinale, das ist schon jetzt die größte Sensation dieses Turniers, die kitschigste Story: der Sieg des Außenseiters.

Das Land der Vilis, Marmadashvili, Lochoshvili, Kiteishvili, trainiert von Sagnolwilly, nur 3,7 Millionen Einwohner, aber im Fußball unter den 16 Besten Europas.

Georgischer Jubel in Gelsenkirchen<span class="copyright">dpa</span>
Georgischer Jubel in Gelsenkirchendpa

Auf dem Schalker Stadionvorplatz: Hupen, Hüpfen, Tänze. Auf den Straßen spontane Autokorsos, eskortiert von den Strömen an Anhängern, die beseelt in die Nacht entschwinden, ein georgischer Feiertag im Ruhrgebiet.

An diesem Abend gruppieren sich Ingredienzen zu einem Erfolg, der nichts von seiner Wucht verliert, wenn man weiß, dass Portugal mit der B-Auswahl antritt und den entnervten Cristiano Ronaldo nach 66 Minuten vom Feld holt.

Die portugiesischen Fans, in der Nachmittagshitze noch sangesfreudig und siegessicher: plötzlich verstummt. Im Achtelfinale treffen sie auf Slowenien, während Georgien die Spanier erwartet.

Sagnol, die Bayern-Legende: Willyyyyyyy…

Wie das möglich ist? Mit einer Mannschaft, die als Gemeinschaft funktioniert. Mit Toren der Nicht-Vilis Khvicha Kvaratskhelia (2. Minute) und Georges Mikautadze (57./Foulelfmeter). Mit Paraden des famosen Keepers Giorgi Mamardashvili.

Willy Sagnol feiert mit Saba Lobjanidze<span class="copyright">Imago</span>
Willy Sagnol feiert mit Saba LobjanidzeImago

Und mit Coach Sagnol, einem Franzosen, der beim FC Bayern von 2000 bis 2009 zu Clublegende und Kultfigur wurde. War er am Ball, schallte es im Chor von den Rängen: Willyyyyyyy…

Die Georgier übernahm Sagnol im Februar 2021, die EM-Teilnahme stellte er auf „eine Ebene wie den Champions-League-Sieg mit Bayern, ohne Zweifel“. Damals ernannte ihn Mittelfeldmann Nika Kvekveskiri zum „Nationalhelden“, was kaum untertrieben war. Wie lässt sich das noch steigern – Sir Willy?

Sagnol, 47, ist ein überraschender EM-Protagonist. Nach seiner Zeit als einer der weltbesten Rechtsverteidiger trainierte er unauffällig französische Nachwuchs-Nationalmannschaften, Girondins Bordeaux und für ein Bundesligaspiel, im September 2017, sogar den FC Bayern (vorher war er kurz Assistent des entlassenen Carlo Ancelotti gewesen) . Danach: der Cut.

Sagnol kannte keinen einzigen georgischen Spieler

Es war ein „freiwilliger Rückzug“, wie Sagnol neulich in einem Fifa-Interview verriet. Bis sich Georgiens Verbandsspitze, geleitet von den Ex-Bundesligaprofis Levan Kobiashvili und Alexander Iashvili, an einen ihrer Gegner aus der Bundesliga erinnerten. „Er hat vorher keine überragende Trainerkarriere gehabt, aber er hat gezeigt: Er will das“, sagte Kobiashvili.

Ja, er wollte das. Im Verbund veränderten sie Strukturen, gerade in der Jugendarbeit, „so viele gute Dinge“, meinte Sagnol. Dabei kannte er beim Amtsantritt keinen einzigen seiner Spieler, „nicht mal Kvaratskhelia“, Georgiens Star vom SSC Neapel.

Sagnol ließ sich auf seinen Job ein, er lernte die Leute kennen und das Land am Schwarzen Meer; sieben Monate pro Jahr verbringt er dort. „Meiner Meinung nach“, sagte er, „hat die lokale Kultur großen Einfluss auf die Spielweise einer Nationalmannschaft. Daher war es wichtig, sie zu verstehen.“ Kvekveskiri lobte „die Arbeitsmoral, die  Disziplin, die Taktik, die er eingebracht hat“.

Georgien-Journalisten fiebern im Nationaltrikot mit

Interessant auch, wie Sagnol seine Elf verbal und mimisch dirigiert: Am Mittwoch steht er – weißes Shirt, schwarze Hose, weiße Schuhe – meist nah an der Außenlinie, wie früher als Profi, er coacht ruhig, aber mit einer gewissen Präsenz, ohne in Aktionismus zu verfallen. Das überträgt sich: Sein Team spielt als Kollektiv. Die Fans eingeschlossen. Und die Journalisten.

Als Georgien gegen Tschechien den ersten EM-Punkt einfuhr, wurde Sagnol auf der anschließenden Pressekonferenz mit Applaus empfangen. Da lächelte er. Auf Schalke sitzen einige georgische Medienvertreter im Nationaltrikot vor ihren Laptops, einer trägt Kvaratskhelias Neapel-Shirt.

Schon ziemlich süß, sie in den Schlussminuten zu studieren. Wie sie nervös ihre Hände kneten, trotz 2:0-Vorsprung. Wie sie unbedingt wollen, aber es nicht wagen, daran zu glauben. Wie sie ihr Gesicht tief in die geballten Fäuste eingraben. Und dann weinen. Vor Freude.