Bürgermeister warnt im Migrationstalk bei "Anne Will": "Wir sind faktisch voll"
Wie soll es in der deutschen Migrationspolitik weitergehen? Über diese Frage diskutierte Anne Will am Sonntagabend. Der Bürgermeister einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt schlug Alarm.
Einmal mehr war die Migrationspolitik Thema bei "Anne Will" (ARD) am Sonntag: Bis Anfang August, so hieß es in einem ersten Einspieler, stellten in diesem Jahr 204.461 Menschen einen Antrag auf Asyl in Deutschland. Verglichen mit dem Vorjahreszeitraum ist dies ein Plus von 77,2 Prozent. Wie groß die Belastung der Gemeinden ist, beschrieb Frank Rombey zu Beginn der Sendung eindrücklich. Der 43-Jährige ist parteiloser Bürgermeister von Niederzier, einer Gemeinde mit 14.600 Einwohnern in Nordrhein-Westfalen. Hinzukommen 847 Geflüchtete: "Wir sind sehr, sehr stolz darauf, dass bei uns in der Gemeinde 82 verschiedene Nationen leben", betonte Rombey. Bislang habe die Aufnahme von Geflüchteten dank dem ehrenamtlichen Einsatz etlicher Helferinnen und Helfer auch gut geklappt, aber: "Die Leute werden müde."
Die Hauptprobleme, so führte der Bürgermeister aus, seien die Unterbringung und die Integration der ankommenden Menschen. Von der viel diskutierten Obergrenze für Asylsuchende in Deutschland hält er dennoch nichts: "Von Grenzen zu sprechen in Zusammenhang mit Menschen ist schwierig", erklärte er. Er bevorzugt den Begriff "Belastungsgrenze": "Die Kommunen sind am Limit. Es sind einfach zu viele Menschen, die kommen. Wir brauchen Zeit, um die Infrastruktur auch anzuschaffen: Kita-Plätze sind voll, Schulen, die medizinische Versorgung ... Wir kriegen das einfach nicht mehr gehandelt."
"Das einzige, was wirklich helfen wird, ist eine europäische Lösung"
Dass es endlich effektive Lösungen braucht, weiß auch Markus Söder (CSU): "Wir sagen immer ja zu Hilfe, aber nein zu einer unkontrollierten Zuwanderung nach Deutschland", unterstrich der aus München zugeschaltete bayerische Ministerpräsident. Von der "Integrationsgrenze" wollte er auch nach Kritik nicht abrücken, gab jedoch zu, dass diese "natürlich durch ein Konzept unterfüttert werden" müsste. Die genannten Beispiele reichten vom Grenzschutz über den Stopp von Sonderaufnahmeprogrammen, wie es sie sowieso nur in Deutschland gebe, bis hin zur Erweiterung der sicheren Herkunftsländer. Söders Vorschlag: "Ein Deutschlandpakt gegen unkontrollierte Zuwanderung", wie ihn auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ins Spiel gebracht hatte.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hielt die Verwendung des Terminus "Obergrenze" für problematisch, "insbesondere dann, wenn man feststellt, dass Obergrenzen so gar nicht zu definieren sind. Damit macht man Menschen ja vor, das sei die Lösung, damit würde alles besser. Das ist es ja nicht!" Zudem sei Deutschland an das EU-Recht und das internationale Recht gebunden: "Das einzige, was wirklich helfen wird, ist eine europäische Lösung", sagte sie. Denn nur so könne auch das Problem der ungleichen Verteilung ukrainischer Geflüchteter gelöst werden.
Migrationsexpertin: "Der praktische Effekt der Obergrenze geht gegen Null"
Die schärfste Kritik an Söders Obergrenze kam von Victoria Rietig. Die Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) stellte klar, "dass der praktische Effekt der Obergrenze gegen null geht." Sie bediente sich an einem Beispiel: "Wenn ich sage, ich möchte nächstes Jahr nur 100 Briefe bekommen, habe aber 200 Leute, die mir Briefe schreiben wollen, dann wird mir der Postbote auch 200 Briefe zustellen." Es sei wichtig, die vorgeschlagenen Maßnahmen einem "Realitätscheck" zu unterziehen, forderte sie weiter: "Es gibt viele, viele Stellschrauben und Migrationspolitikpuzzleteile, die zusammen ein großes Ganzes ergeben. Wir müssen die Puzzleteile aber auch stringent verfolgen." Eben das sei in Deutschland allerdings nicht der Fall: "Wir überschätzen massiv, was die einzelnen Maßnahmen liefern können."
Nach ausschweifenden Diskussionen kam letztlich noch einmal der Bürgermeister zu Wort: "Ich bin fassungslos, wenn ich diese Diskussion hier heute Abend gesehen habe", sagte er: "Wir brauchen jetzt, heute, eigentlich schon gestern und vorgestern Lösungen für unsere Probleme. ich habe heute maximal Ansätze gehört."
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