Berichte über Massaker in Pandschir - Widerstand wirft Taliban Genozid vor

Kämpfer der Taliban in Pandschir (Bild: Sayed Khodaiberdi Sadat/Anadolu Agency via Getty Images)
Kämpfer der Taliban in Pandschir (Bild: Sayed Khodaiberdi Sadat/Anadolu Agency via Getty Images)

Anfang der Woche verkündeten die Taliban die Eroberung der letzten Widerstandshochburg im Pandschir-Tal. Seitdem ist die Provinz weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten, doch es dringen immer mehr Berichte durch, die auf schwerwiegende Kriegsverbrechen hinweisen.

Während sich die Kämpfer der Nationalen Widerstandsfront (NRF) um Ahmad Massud und zahlreiche Zivilisten in die umliegenden Berge zurückgezogen haben, gehend die Taliban offenbar mit brutaler Gewalt gegen die in den Siedlungen im zentralen Tal verbliebene Bevölkerung vor.

So wird immer wieder berichtet, dass Talibankämpfer vor allem junge Männer in den Dörfern des Tals zusammentreiben und verschleppen oder hinrichten. In einem von Hazara bewohnten Bezirk sollen sie fast alle Männer in Lastwagen abtransportiert und später ermordet haben. Bei anderen Massakern seien unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder getötet worden. "Die Kämpfer sind in die Berge geflüchtet, doch die Taliban sind in die Dörfer unten im Tal gegangen und haben alle getötet, die sie vorgefunden haben", sagte etwa ein im Ausland lebender Mann aus Pandschir der Zeitung "The Australian". Journalist Natiq Malikzada berichtet, dass sein Onkel einem dieser Massaker zum Opfer gefallen sei.

Den Taliban wird zudem vielfach vorgeworfen, keine Versorgungsgüter in das Tal zu lassen, um die Bevölkerung auszuhungern oder zu vertreiben. Getreidefelder seien niedergebrannt und Viehbestände vernichtet worden. Ein Video, das unter anderem von dem NRF-Außenbeauftragten Ali Nazary verbreitet wurde, zeigt eine lange Kolonne von Fahrzeugen. Die Taliban hätten Tausende vertrieben, schreibt Nazary dazu, der von einer ethnischen Säuberung spricht.

Die Flüchtenden werden offenbar vor dem Verlassen des Tals von Talibankämpfern kontrolliert, der ehemalige UN-Funktionär Hashim Wahdatyar berichtet, dass auch an diesen Checkpoints junge Männer abgefangen und ermordet würden.

Ein Sprecher der Taliban bezeichnete Berichte über Massaker und Folterungen gegenüber "Tolo News" als Gerüchte. Die NRF-Führung wirft den Taliban dagegen in einer Mitteilung einen Genozid an der Bevölkerung des Tals vor. Der afghanische UN-Botschafter Ghulam Isacsai sprach vor dem Sicherheitsrat von "Gräueltaten in großem Umfang" in Pandschir.

Die Berichte, die vor allem von Vertretern der NRF, Menschen mit Verwandten in der Region und immer öfter auch von Flüchtlingen aus Pandschir stammen, konnten bisher kaum von Dritten verifiziert werden, da die Taliban Internet und Telefonnetze in der Provinz gekappt haben und keine Journalisten oder anderen Beobachter hineinlassen.

Aus Pandschir vertriebene Menschen berichten, dass die Taliban an ihren Checkpoints die Handys der Flüchtenden kontrollieren, Aufnahmen von Kriegsverbrechen müssten gelöscht werden. Dennoch kursieren inzwischen einige Fotos von getöteten Menschen, die aus Pandschir stammen sollen, sowie ein Video, das die Erschießung eines gefangenen Widerstandskämpfers durch Taliban zeigen soll. Mit der zunehmenden Anzahl der Berichte von Geflüchteten verdichtet sich ein alarmierendes Bild, zumal sie an frühere Verbrechen der Taliban wie den Genozid an den Hazara von Masar-i-Scharif im Jahr 1998 erinnern.

Zur Einordnung dieser Verbrechen ist wichtig, dass die Ideologie der Taliban neben radikalem Islamismus auch von paschtunischem Nationalismus genährt wird. Besonders betroffen sind die mehrheitlich schiitischen Hazara, die in Afghanistan seit Jahrhunderten religiöser wie auch rassistischer Verfolgung ausgesetzt sind, aber auch die anderen Volksgruppen. Das Pandschir-Tal etwa wird überwiegend von Tadschiken sowie einer Minderheit von Hazara bewohnt, nun nehmen paschtunische Talibankämpfer ihre Häuser in Beschlag.

Auch inmitten der täglichen Gewalt, die von den Taliban in ganz Afghanistan verübt wird, spielt der ethnische Hintergrund offenkundig eine große Rolle. Wo Taliban gegen frühere Sicherheitskräfte, Frauen oder Journalisten vorgehen, ist die Brutalität besonders groß, wenn die Opfer Hazara sind. So sind die Reporter, die vor einigen Tagen wegen der Berichterstattung von einer Demonstration schwer misshandelt wurden, ausnahmslos Hazara, genauso wie die hochschwangere ehemalige Polizistin, die in der vergangenen Woche in der Provinz Ghor ermordet wurde. Während der chaotischen Evakuierungsmission wurden Hazara oftmals nicht zum Flughafen gelassen und an den Taliban-Checkpoints misshandelt.

Im hauptsächlich von Hazara bewohten Stadtteil Dascht-e-Bartschi drangen vor wenigen Tagen Taliban in die Syed-al-Shahada-Schule ein - dieselbe Schule, die im Mai Ziel eines Selbstmordanschlags war, dem fast 100 Schülerinnen zum Opfer fielen. Wie unter anderem das afghanische Frauen-Nachrichtenportal "Rukhshana Media" berichtet, terrorisierten die Talibankämpfer dort Schülerinnen, die ihrer Ansicht nach nicht ausreichend verhüllt gewesen seien. Unter anderem seien Mädchen geschlagen und mit Schusswaffen bedroht worden, einige Kämpfer hätten in die Luft geschossen. Ein Mädchen sei bewusstlos geworden, mehrere mussten mit Schockzuständen behandelt werden.

Doch auch andere Ethnien sind gefährdet, zuletzt sollen etwa auch in Kabul immer wieder Tadschiken verschleppt worden sein, insbesondere wenn Talibankämpfer bei Kontrollen an Checkpoints eine Herkunft aus Pandschir feststellten. Auch die nach den Protesten in Kabul verhängten Internetsperren betrafen vor allem Viertel, die von Usbeken, Tadschicken und Hazara bewohnt sind. Vordergründig geht es den Taliban vor allem darum, Berichte über weitere Demonstrationen zu unterbinden, doch viele Menschen befürchten, dass so auch neue Gräueltaten vertuscht werden sollen.

Anmerkung: Der Artikel wurde am 11. September um einige Details aktualisiert und ergänzt.

Video: Moderate Versprechungen - strenge Wirklichkeit unter den Taliban