EM 2016: Fußballfieber à la Française

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Beim Fußball scheiden sich die Nationalitäten. Nicht so einfach also, als Deutsche in Frankreich das Halbfinale zu verfolgen. Unsere Reporterin Lisa Louis musste dabei schon sehr stark sein.

Von Lisa Louis, Paris

Nach zehn Jahren in Frankreich bin ich schon ein bisschen französisch geworden. Aber beim Fußball bringe ich es dennoch nicht fertig, mich auf die Seite der Blauen zu schlagen. Eine deutsche Bar in Paris scheint mir da der ideale Ort, um das Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich zu schauen. Das Café Titon im 11. Arrondissement ist für seine Weißwürste und das deutsche Bier bekannt. Und dafür, dass sich vor allem bei den deutsch-französischen Fußballschlachten Fans beider Seiten dort treffen.

Schon zwei Stunden vor dem Spiel ist die Bar gut besucht. Drinnen sind zwei große Leinwände aufgehängt, auf denen die Vorberichterstattung auf Deutsch zu sehen ist. Auch draußen ist ein Fernseher, auf dem die Bilder laufen. Die Kneipe ist mit deutschen und französischen Fahnen geschmückt. Junge Frauen und Männer warten mit Currywürsten und Weißbier in der Hand auf den Anpfiff. Sie haben Deutschland- oder Frankreichtrikots an, haben sich die jeweiligen – oder manchmal auch beide – Flaggen auf die Wange gemalt und Papiergirlanden in den Landesfarben um den Hals gehängt.

Superstimmung ohne Feindseligkeiten

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Der Deutsch-Franzose Julien Pasteau ist mit seinen französischen Freunden Florian Daquin und Rémi Fourdain da. Julien trägt ein deutsches Trikot. „Das ziehe ich seit Beginn der EM bei jedem Spiel an – ohne es zu waschen“, sagt er lachend. „Das bringt uns Glück!“ Ins Titon ist er gekommen, weil er die Stimmung mag - „hier ist es immer so herzlich“, meint er.

Seine beiden Kumpels nicken. „Im Titon ist eine Superstimmung – ohne, dass es zu Reibereien oder Feindseligkeiten kommt“, sagt Rémi. Florian fügt hinzu: „Aber gewinnen werden wir trotzdem – das wird unsere Revanche nach dem WM-Viertelfinale vor zwei Jahren, das wir gegen Deutschland verloren haben.“ Julien guckt ihn etwas schief an, schüttelt den Kopf und lacht.

Anpfiff. Ich stehe in einer Menge von Deutschen und Franzosen vor einer der Leinwände in der Kneipe. Die Stimmung ist angespannt bei den Deutschen, als die Franzosen schon in den ersten Minuten aggressiv in den Angriff gehen. „Allez, les bleus“, ruft es von verschiedenen Seiten. Doch die Rufe sind eher zurückhaltend. Julien fachsimpelt mit einem Frankreich-Fan. Sie sind sich einig – Jonas Hector ist ein guter Spieler.

Der Knoten im Bauch

Der Ball ist auf einmal fast nur auf der französischen Seite, und die Deutschen werden lauter. „Auf geht’s, Deutschland schießt ein Tor“, singen sie laut im Chor. Die deutschen Fans scheinen nun entspannter, doch je weiter die Zeit fortschreitet, desto ungeduldiger werden sie. „Er muss jetzt mal rein“, brummt ein blonder Mittdreißiger mit rechteckiger Brille und Deutschlandtrikot mit Thomas Müllers Nummer 13. Dann plötzlich der Elfmeter und das Tor für Frankreich. Die blauen Fans schreien ekstatisch. Die Deutschen blasen Trübsal. Die Hände vor den Gesichtern, die Augen in Schockstarre weit geöffnet. Ich habe einen Knoten im Bauch. Halbzeit.

Ich gehe an die frische Luft, laufe durch die Menge. „Ich hoffe, wir können das noch aufholen“, sagt ein deutscher Fan in eine Gruppe anderer Fans hinein. Etwas weiter stehen Gruppen von Franzosen. Sie trinken Wein aus Flaschen, essen Chips und Erdnüsse. Ihre Gespräche drehen sich um die Uni, die Arbeit – um alles, außer um Fußball.

Diese Einstellung sei symptomatisch, meint Albrecht Sonntag, deutscher Sozialwissenschaftler an der ESSCA Ecole de Management in Angers, der seit 25 Jahren in Frankreich lebt und zum Thema Fußball forscht. „In Frankreich hat es nie ein wirkliches Fußballfieber gegeben – und das wird sich auch nicht ändern“, sagt er gegenüber Yahoo Deutschland!. „Es kommt vielleicht einmal zu einem kleinen Freudentaumel wie bei der WM 1998. Und wenn Frankreich die EM tatsächlich gewinnen sollte, fahren alle mit einem Lächeln auf den Lippen in die Ferien. Aber nachhaltige Auswirkungen – zum Beispiel auf die Mitgliedszahlen in den Fußballvereinen – wird das nicht haben.“

Fußball ist in Frankreich ein Arbeitersport

So habe der Fußball in Frankreich nie den identitätsstiftenden und kulturellen Stellenwert wie in Deutschland erreicht. „Die Franzosen brauchen, anders als wir, den Fußball nicht, um ein Nationalgefühl zu entwickeln“, meint Sonntag. Denn der Nationalstolz sei in Frankreich auch nach dem zweiten Weltkrieg intakt geblieben. Außerdem, so der Sozialwissenschaftler, sei Fußball in Frankreich nie in der Mitte der Gesellschaft angekommen und immer noch ein Arbeitersport. „Die kulturellen und politischen Eliten gucken immer noch auf diesen Sport herab und schicken ihre Kinder lieber zum Reiten oder Rugby“, so Sonntag.

Das fehlende Fußballfieber hat sich auch in meinem Paris der vergangenen vier Wochen bemerkbar gemacht. Natürlich hängen an einigen Orten Flaggen. Und übersehen, dass gerade EM ist, kann man auch nicht. Obwohl das eher an den zahlreichen ausländischen Fans liegt, die in Gruppen mehr oder weniger nüchtern durch die Stadt gezogen sind, als an den meist eher diskreten französischen Fans.

Und natürlich gibt es auch Wirte, die durch das Turnier ihren Umsatz haben aufpolieren können. Wie Samir Boussaba, der das Café Paris Rive Droite im eher gemischten Quartier Les Halles betreibt. „Durch die EM konnten wir die schlechten Umsatzzahlen der vergangenen Monate etwas aufbessern“, erzählt er mir am Donnerstag Nachmittag, während er extra Tische für das Spiel am Abend aufstellt. Bis zu 600 Gäste werden das Spiel in seinem Lokal mitverfolgen können. „Das wird bombastisch“, sagt er. „Noch dazu, weil wir gewinnen werden!“

Business as usual – auch während der EM

Doch ansonsten ist hier in Paris eher business as usual angesagt. Fußball ist nicht das vorherrschende Gesprächsthema. Und Paris ist nicht in ein Meer der Flaggen gehüllt. Das enttäuscht den Zeitungsverkäufer Olivier Lefebvre, ein paar Straßen vom Café Rive Droite entfernt. „Ich hätte mir ein bisschen mehr von den französischen Fans erwartet“, sagt er mir. „Am Mittwoch haben die portugiesischen Fans hier in Frankreich ja mehr gefeiert als die Franzosen bei den Siegen davor.“

Das Bild im schicken 16. Arrondissement im Westen der Stadt ist kaum anders. Lionel Nabet hat dort das Café Le Poincaré – wie er sagt, ist sein Lokal das einzige, das die Spiele live überträgt, bis auf eine kleine portugiesische Bar um die Ecke. „Die Wirte hier sind den Fans gegenüber sehr misstrauisch“, erklärt er mir, als wir am Nachmittag in seiner von Flaggen geschmückten Bar sitzen. „Die Restaurants hier haben auch eine eher schicke Klientel und wollen die nicht mit laut feiernden Fans vertreiben“, meint er. Außerdem strömten viele Franzosen, wenn sie die Spiele doch sehen wollten, in die Fanzone unter dem Eiffelturm. Da haben, so die Pariser Stadtverwaltung, seit Anfang der EM schon mehr als eine Million Fans Spiele miterlebt.

Zurück im Titon. Ich habe beschlossen, die zweite Halbzeit an der frischen Luft zu verbringen, mit etwa 300 weiteren Zuschauern vor dem Fernseher, der über dem Fenster aufgehängt ist. Die Franzosen sind hier klar in der Mehrheit. Immer wieder stimmen sie die Marseillaise an, rufen „allez les bleus“ und schreien panisch „non!“, wenn sich der Ball dem französischen Tor nähert.

Aber es nützt alles nichts. In der 72. Minute fällt das 2:0, meine Stimmung ist am Tiefpunkt angelangt. Ich flüchte mich in eine kleine deutsche Enklave direkt vor dem Bildschirm. Da stehen rund ein Dutzend Jungs und Mädels in Deutschlandfarben. Mit betroffenen Gesichtern. Auch ich bin betroffen, ja regelrecht verärgert über meine Wahlheimat.

Die Versöhnung

„Ich wäre ja so gerne für die Deutschen, aber ich kann einfach nicht“, sagt da eine dunkelhaarige Französin hinter mir und legt ihre Hand aufs Herz. Sie hat sich die Frankreichflagge auf die Wange gemalt und eine Blumenkette in den Nationalfarben um. Ludivine Lallemand heißt sie passenderweise, also Ludivine, der Deutsche. Den Namen hat sie von ihren Vorfahren, die Kröger hießen und in Hamburg lebten. Als die in Frankreich ankamen, haben sie alle einfach nur „Die Deutschen“ genannt.

Die Französin ist mit Nadine, einer deutschen Freundin hier. „Das tut mir so leid für Dich“, sagt Ludivine zu ihr. Dann lächelt sie mich an. Und auch ich lächele, plötzlich versöhnt. „Och, so ein kleines Törchen könntet Ihr uns doch gönnen..“, sage ich zu Ludivine. „Ja, aber unser Torwart will glaub ich nicht“, sagt sie und zuckt entschuldigend mit den Achseln. Zusammen gucken wir die letzten 20 Minuten. Und als der Abpfiff kommt, kann auch ich mich freuen. Ich gönne Frankreich den Sieg – vor allem nach dem, was das Land im vergangenen Jahr des Terrors so durchgemacht hat. Um mich herum bricht Freudengeschrei und -gesang aus. Hupende Autos fahren vorbei. Ludivine und Nadine umarmen sich und tanzen, um den Sieg zu feiern.

Bilder: Yahoo/dpa