EM-Kolumne von Pit Gottschalk - Etwas Besseres als der Tränen-Elfmeter konnte Ronaldo gar nicht passieren
Die portugiesische Tormaschine war bei dieser EM nur noch ein Schatten seiner Selbst. Im Achtelfinale gegen Slowenien zerstörte CR7 mit einem verschossenen Strafstoß seinen letzten großen Fußballertraum. Focus-online-Kolumnist Pit Gottschalk leidet mit ihm - und kann das nächste Ronaldo-Drama am Freitag kaum erwarten.
Cristiano Ronaldo macht mich fertig. Er ist Selfmade-Millionär, Sportwelt-Legende und Portugal-Heiliger, inzwischen 39 Jahre alt und Gastarbeiter in Saudi-Arabien. Er hat sechs EM-Turniere bestritten, die meisten Tore erzielt, genau 14, und 2016 den Europameistertitel gewonnen, fünfmal die Champions League. So einer verliert niemals die Contenance - dachte ich.
Dann kam das Slowenien-Spiel .
105. Spielminute in Frankfurt. Eine Viertelstunde war in der Verlängerung gespielt. Elfmeter für Portugal, Verteidiger Vanja Drkusic hatte Diogo Jota in die Horizontale befördert. Ganz klar, wer schießt: Cristiano Ronaldo, der vielleicht selbstsicherste Strafstoßschütze unter der Sonne. Er will diesen Treffer unbedingt. Ältester EM-Torschütze ever - der Titel fehlt ihm.
In diesem einen Moment erleben wir einen neuen Ronaldo
Er schießt rechts, knallhart und platziert. Keine Ahnung, wie Sloweniens Torwart Jan Oblak die Ecke geahnt hat. Wie viel Sprungkraft er in den Beinen haben muss, um mit einem Satz die Fingerspitzen an den Ball zu bekommen. Dass der Schuss nicht ins Tor geht, liegt außerhalb der Vorstellungskraft von Ronaldo. Er dreht fast zum Jubeln ab, bevor der Ball an den Pfosten springt und sein Ziel verfehlt.
In diesem Moment erleben wir einen neuen Ronaldo. Nicht den Großkotz, der am liebsten seine Muckis stählt und bräunt, dicke Autos fährt und Markenklamotten spazieren führt.
Plötzlich ist er wieder der kleine Junge vom Dorfplatz in seinem Heimatort Funchal auf Madeira. Er hat den entscheidenden Elfmeter verschossen - und weint und weint und weint. Es bleibt beim 0:0.
Ronaldos Tränen berühren mich
Die Mitspieler können ihren verzweifelten Star kaum trösten, immer wieder nehmen sie ihn in den Arm. Ronaldo lässt das Mitleid über sich ergehen, er braucht jetzt Zuspruch.
Ich denke an meine Kolumne , die ich eine Woche zuvor über Cristiano Ronaldo geschrieben habe. Überschrift: „Ich liebe die Diva Ronaldo - aber so will ich ihn nie mehr sehen“. Jetzt bin ich hin- und hergerissen.
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Ronaldos Tränen berühren mich. Etwas Besseres als der Tränen-Elfer konnte CR7 nicht passieren. Jetzt sehen die Leute, dass er doch mehr ist als die portugiesische Tormaschine - er ist ein Mensch. Einer, der Fehler macht. Einer, der Gefühle zeigt. Großes Drama, ja - das liebt er. Und wir Zuschauer dürfen daran teilhaben, tief in sein Seelenleben schauen. Es ist herzzerreißend.
Ich habe Ronaldo die Rente gewünscht, jetzt freue ich mich über ihn
In vier EM-Spielen hat er seinen vermutlich letzten großen Fußballertraum, dieses eine Tor, nicht erfüllen können. Die Slowenen brachten ihn und seine Portugiesen im Achtelfinale an den Rand des Abgrunds. Eine Niederlage hätte nach zwei Jahrzehnten das Ende seiner Nationalelf-Karriere bedeutet - das Ende einer Ära.
Im Elfmeterschießen tritt Ronaldo nach Abpfiff dann nochmals an. Veränderter Anläuf. Er verzögert. Er wechselt die Ecke. Und trifft.
Portugal steht jetzt im EM-Viertelfinale, das Ronaldo-Drama spielt in diesem Turnier einen weiteren Akt: am Freitag gegen Frankreich und Superstar Kylian Mbappé, seinen Nachfolger auf der ganz großen Fußballbühne.
Ich habe Ronaldo vorige Woche noch die Rente gewünscht, stimmt. Aber jetzt freue ich mich auf jedes einzelne Theaterstück, das mir dieser verrückte Kerl noch bietet. Tränen inklusive.