EM-Kolumne von Pit Gottschalk - Als mir Rangnick fast an die Gurgel geht, lerne ich seine verborgene Seite kennen

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Man nennt Österreichs Erfolgstrainer gerne den „Professor“. Aus eigener Erfahrung weiß FOCUS-online-Kolumnist Pit Gottschalk, dass der Begriff irreführend ist. Er nennt ihn lieber „Alpen-Vulkan“.

Als die Sensation perfekt war und Holland 3:2 besiegt , kämpfte Ralf Rangnick gegen seine Emotionen im Berliner Olympiastadion. Österreichs Nationaltrainer setzte sich auf die Ersatzbank, während seine Spieler mit den Fans feierten und „I am from Austria“ sangen. „Ich wollte mich einfach ein bisschen ausruhen“, sagte Rangnick hinterher.

Da war es wieder, dieses Klischee, das ich seit Jahren von ihm kenne: Die da draußen geben sich ihren Gefühlen hin, und der „Herr Professor“ sammelt und sortiert seine Gedanken im Stillen.

Den Beinamen „Professor“ trägt Rangnick, seit er im Dezember 1998, vor fast 26 Jahren, einem Millionenpublikum im ZDF-Sportstudio die große Fußballwelt an einer Taktiktafel erklärte.

Rangnick sprang mir fast an die Gurgel

Ich kann versichern: Ralf Rangnick ist ganz anders - er kommt nur viel zu selten dazu. Ich habe es im August 2017 selbst erlebt, als ich mit ihm am Sonntagmorgen im „Sport1“-Doppelpass saß. Er war Trainer von RB Leipzig und hatte am Tag zuvor 0:2 auf Schalke verloren. Als ich das Ergebnis als „angemessen“ titulierte und RB Leipzig kritisierte, sprang mir Rangnick fast an die Gurgel.

Seine Augen blitzten mir eine Kriegserklärung einmal quer durch die Gästerunde, er schlug mich mit Argumenten tot. Taktisches Verhalten, Spielanteile, individuelle Klasse: Ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern, aber ich würde ihn heute nicht mehr „Professor“ nennen.

Müsste ich ihn als Österreich-Trainer beschreiben, hätte ich eine bessere Bezeichnung: Alpen-Vulkan - immer kurz vorm Ausbruch.

Sogar der große Manager Rudi Assauer hat Rangnicks Gefühlsausbrüche vor 20 Jahren leidvoll erfahren. Der Trainer hatte auf Schalke seinen Abschied zum Saisonende angekündigt, er war vom „Possenspiel im Verein“ genervt. Das Publikum feierte ihn, schickte ihn auf eine emotionale Ehrenrunde durchs Stadion. Assauer fühlte sich provoziert. Und entließ ihn Tage später.

Die Leute unterschätzen Rangnick, Ronaldo kannte ihn nicht mal

Er hat Rangnick wohl unterschätzt. Das passiert vielen. 1,81 Meter groß, kleiner Bauchansatz und Studentenbrille: Auf den ersten Blick ist er weder ein Gentleman-Trainer wie Ottmar Hitzfeld noch ein Macher-Coach wie Joachim Löw. „Ich kenne ihn nicht“, sagte Cristiano Ronaldo, als Rangnick neuer Trainer bei Manchester United wurde. Tatsachlich hat er keine riesigen Erfolge vorzuweisen.

In seiner Bilanz stehen: Ja, der DFB-Pokal mit Schalke 2011, zwei österreichische Double mit RB Salzburg 2014 und 2015 und der Durchmarsch mit RB Leipzig 2017. Und ansonsten nicht viel außer Landespokalsieg und Aufstieg mit dem SSV Ulm. Das hinderte Rangnick aber damals nicht daran, Ronaldo auf die Bank zu setzen, wenn er’s für richtig hielt. Er ist ein Überzeugungstäter.

Ich habe Rangnicks Nein zu Bayern nicht verstanden - weil ich Österreich unterschätze?

Die Bayern wissen, was das heißt. Als Sportvorstand Max Eberl ihn mit einem Millionengehalt und der Aussicht auf eine neue Meistermannschaft lockte, sagte Rangnick nach etwas Bedenkzeit „Nein“. Er wollte in Österreich bleiben.

Ich habe seine Entscheidung damals nicht ganz verstanden. Aber das liegt wohl daran, dass ich das ÖFB-Team immer noch unterschätze.

Zugegeben, die Ösis haben Deutschland im November 2:0 weggeputzt. Aber die Bilanz spricht für den DFB: 25 Siege und sechs Unentschieden in 41 Länderspielen - das ist eindeutig. Darum fragte ich mich: Was sieht Rangnick in Österreichs Nationalmannschaft, was ich nicht sehe? Heute weiß ich es. Österreich wurde Erster in der so schweren Gruppe mit Frankreich, der Niederlande und Polen.

Rangnick findet immer einen Bauplan

Das ist vielleicht seine große Stärke und wahrscheinlich der Grund, warum er jahrelang perfekt zu RB Leipzig und jetzt zu Österreich passt: Er findet immer einen Bauplan, um aus dem Nichts eine schlagfertige Truppe zu konstruieren. Vermutlich wäre er als Retter im Abstiegskampf hoffnungslos verloren. Er ist Gestalter, keine Reparaturwerkstatt.

In Kurznachrichten hat er mir schon seitenweise Taktik-Analysen geschickt, die ich so gut wie gar nicht verstanden habe. Wenn man ihn nicht besser kennt, wäre man wieder schnell mit der akademischen Bezeichnung „Professor“ zur Hand. Aber ich bleibe dabei: Alpen-Vulkan! Schalke hat damals übrigens nie wieder ein Heimspiel gegen RB Leipzig gewonnen.

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