Exklusives Interview mit Gretchen Dutschke-Klotz: "Deswegen mussten 1968 die linken Frauen rebellieren"

Gretchen Dutschke-Klotz bei einer Veranstaltung zu Ehren ihres verstorbenen Mannes Rudi. (Bild: Sean Gallup/gettyimages)
Gretchen Dutschke-Klotz bei einer Veranstaltung zu Ehren ihres verstorbenen Mannes Rudi. (Bild: Sean Gallup/gettyimages)

Vor 50 Jahren veränderte die Studierendenbewegung Deutschland. Mit dabei: Gretchen Dutschke-Klotz, Aktivistin und Witwe von Rudi Dutschke – dem Wortführer der damaligen Revolte. 1968 überlebte er knapp ein Attentat, an dessen Spätfolgen er 1979 starb. Was ist vom Aufstand geblieben – und was braucht es heute? Über diese und weitere Fragen sprach die 76-Jährige im Exklusiv-Interview mit Yahoo Nachrichten.

Frau Dutschke, Sie lasen als Jugendliche in Amerika das Tagebuch der Anne Frank. Heute fragen sich manche: ‘Ist es wieder soweit in Deutschland?’ Ist das übertrieben?

Gretchen Dutschke: Das habe ich mich schon gefragt. Einige Leute, welche Anfang der Dreißiger lebten, sagen: Es wiederholt sich. Allerdings haben wir heute nicht diese Armut von damals – und es gibt keinen Adolf Hitler, der magisch anzieht. Mich persönlich lässt die Gegenwart eher an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg denken, als es leicht war Hass zu schüren und einen Sündenbock zu finden sowie zu benutzen.

War Hitler charismatisch?

Dutschke: Er muss es gewesen sein! Wenn man ihn in Filmen sieht, erkennt man ja nur einen cholerischen Wüterich – aber die Leute entwickelten eine Verrücktheit nach ihm.

Was würde ein Charismatiker bewirken, wäre er heute zum Beispiel Vorsitzender der SPD oder der Grünen?

Dutschke: Da würde ich zuallererst hoffen, dass dieser keinen Sündenbock sucht. Probleme sind ja immer kompliziert, einfache Antworten gaukeln nur eine Lösungsmöglichkeit vor. Vielleicht ist es ja eine Herausforderung für Charismatiker, die Leute nicht mit banalen Schuldzuweisungen zu narren.

War Ihr Mann Rudi auch ein Charismatiker?

Dutschke: Das sagen alle. Aber er suchte bei seinem Bemühen, das Leben aller Menschen zu verbessern, keinen Sündenbock. Er hatte ein System im Visier, und sowas ist viel komplizierter als eine Gruppe von Menschen. Er narrte nicht, sondern war vernarrt in Argumente.

In den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts war Rudi Dutschke sowas wie der Anführer der Studierendenproteste in Deutschland. Sie sagten einmal, damals orientierte sich die ganze Gesellschaft nach oben, nicht nach unten. Man hat den Eindruck, heute ist es anders: Da gibt es diese Abstiegsängste…

Dutschke: …wobei es bisher keinen Abstieg gab, es geht ja auch heute für die meisten Menschen immer aufwärts, mit dem Wohlstand. 80 Prozent der Deutschen geht es sehr gut, und ich verstehe nicht: Warum wollen sie noch mehr haben? Und wer jetzt schon unten ist, kann nicht noch tiefer fallen. Vielleicht erwartet man einen lebenslangen Arbeitsplatz, was heute nicht garantiert ist. Ziehen Erwartungen Angst nach sich?

Vielleicht ist es die Angst vor einem Abstieg von einem höheren Niveau aus?

Dutschke: Ich glaube, viele brauchen einfach die Angst an sich. Es bleibt mir ein Rätsel.

Wie bekämpft man Angst?

Dutschke: Die Ursachen müssen offengelegt werden. Ist vielleicht Angst vor Obdachlosigkeit ein Grund? Das erscheint mir für viele Menschen doch als unrealistisch. Vielleicht fehlt die Antriebsfeder.

Eine wichtige Antriebsfeder war die moralische Empörung, das Gefühl: Was in der Welt geschieht, hat mit mir zu tun. Das müsste heute mit der Globalisierung und der Digitalisierung noch ausgeprägter sein, oder?

Dutschke: Aber umso apathischer verharren wir. Die Wissenschaft hat herausgearbeitet, dass in 50 Jahren katastrophale Zustände auf der Erde herrschen werden, wenn wir gegen die Klimaveränderung nichts drastisches unternehmen. Wir tun nicht genug. Die jungen Leute wirken auf mich nicht so verstört, wie sie es sein sollten – das verstehe ich nicht. Ich habe doch nichts dagegen, dass sie ihr Leben genießen. Aber mit unserer damaligen Studentenbewegung waren wir oft auf der Straße, wir haben versucht die Probleme anzugehen. Heute scheinen manche digital abgelenkt zu sein.

Bräuchte es eine neue Bewegung?

Dutschke: Ja, die vielen latenten Unzufriedenheiten und Bauchschmerzen müssten gebündelt werden.

Was halten Sie von der Bewegung “Aufstehen”?

Dutschke: Das ist keine Bewegung, sondern kommt von oben. Sowas finde ich sehr problematisch. Auch scheint “Aufstehen” anfällig für Sündenböcke zu sein, jedenfalls reden sie auffällig viel von Flüchtlingsabgrenzung. Das halte ich für falsch. Mit diesen populistischen Instrumenten werden sie kaum Anhänger gewinnen. Wer jetzt sich für “Aufstehen” erwärmt, würde niemals AfD wählen. Warum also entsprechende Parolen raushauen?

Wieso? Sündenböcke können doch politischen Erfolg bringen?

Dutschke: Aber diesem Erfolg folgte immer eine wahnsinnige Zerstörung. Es ist wie mit Geistern, die man rief und nicht mehr loswird. Die Resultate sind nicht erstrebenswert. Schauen Sie, was mit Deutschland passierte: 1945 hatte es sich in eine Ruinenlandschaft verwandelt.

Sündenböcke werden in jedem Land geschaffen, und nicht jedes Mal geht es derart schlecht aus wie in Deutschland.

Dutschke: Nun, in den USA ist zum Beispiel noch nicht ausgemacht, worin die Sündenbockpolitik von Donald Trump endet. Der Präsident agiert ja sehr destruktiv. Wenn die Republikaner die Wahlen im November für Kongress und Senat gewinnen werden, dann kann es auch in einer Zerstörung enden. Wo gibt es denn weltweit ein einziges Beispiel, dass eine Sündenbockpolitik etwas Gutes bewirkte?

Die Bewegung “Aufstehen” in Deutschland setzt ja mehr auf nationales Denken. Diese Rechnung wird also Ihrer Meinung nach nicht aufgehen?

Dutschke: Genau, denn im Zweifel entscheiden sich Leute für ein Original – und was nationalistisches Denken angeht, stehen dafür rechte Parteien. Die erhalten dadurch Zulauf. Schauen Sie sich Horst Seehofer an – der übernimmt AfD-Inhalte und zieht damit seine CSU nach unten. Was “Aufstehen” natürlich machen sollte ist, Deutschland positiv zu sehen. Man kann stolz auf Deutschland sein. Das ist nicht nationalistisch, sondern würdigt das Erreichte in diesem Land: Den Leuten geht es besser, autoritäre Strukturen haben sich aufgeweicht, und es gibt eine starke Demokratisierung.

Warum fällt es manchen schwer zu sagen: Ich bin stolz auf Deutschland?

Dutschke: Eher die ältere Generation hat damit ein Problem, wegen der Nähe zum Nazismus. Aber die jungen Leute sehen das deutlich unverkrampfter. Heute lässt sich eben Bilanz ziehen. Es ist eine Absurdität stolz auf Deutschland an sich zu sein, weil man hier geboren ist – dafür kann man nichts. Stolz kann man nur auf eine Leistung sein. Hier ist es all das, was ab den sechziger Jahren erreicht worden ist und sich eben von 1945 entfernt hat.

Damals rannte die Studierendenbewegung gegen so genannte “repressive Institutionen” an. Gibt es die noch heute?

Dutschke: Der Verfassungsschutz spielte damals wie heute eine unglückliche Rolle. In unsere Bewegung schmuggelten dessen Agenten Molotows und Bomben ein, das diente allein der Eskalation. Warum sollte das ein Staat tun? Das setzte sich fort bis zur komischen Behandlung der Nazi-Terrorgruppe NSU und wie der ehemalige Bundesverfassungsschutzschef Hans-Georg Maaßen die Jagdszenen in Chemnitz verharmloste.

Gewalt und Eskalation – inwiefern war das damals eine männliche Politik?

Dutschke: Männlich geprägt war damals jegliche Politik, nicht nur die des Verfassungsschutzes, der auf Gewalt als Mittel setzte. Auch die Studentenbewegung und der SDS, der Sozialistische Studentenbund als dominierender Akteur, waren eindeutig maskulin orientiert. Die rebellierenden Genossen damals, die nahmen Frauen oft nicht ernst und sahen in ihnen die Liebhaberinnen, die ihnen die Wohnung putzten und die Kartoffeln kochten, während die Männer über die Revolution berieten. Deswegen mussten 1968 die linken Frauen rebellieren und die neue Frauenbewegung schaffen.

Ist es besser geworden?

Dutschke: Im persönlichen Leben gibt es große Veränderungen, Männer teilen sich viel mehr die Aufgaben mit ihren Frauen, nehmen familiäre Verantwortung wahr. Auch in den gesellschaftlichen Institutionen ist das Bewusstsein der Frauen gewachsen. Strukturell haben Männer aber noch immer mehr Privilegien gegenüber Frauen, da gibt es viel zu tun.

Ein dominanter Typ damals war ja Dieter Kunzelmann, der Mitgründer der so genannten “Kommune 1”. Der setzte damals Frauen auf ihren Mann Rudi an, damit sie ihn verführen; Kunzelmann ist dieses Jahr verstorben. Was fühlten Sie bei seinem Tod?

Dutschke: Ich bin nicht zu seiner Beerdigung gegangen, weil er ein Antisemit war. Ich bin allerdings der Meinung, dass in Deutschland mit der Frage des Antisemitismus falsch umgegangen wird: Denn Kritik an Israels Politik wird mit Antisemitismus gleichgesetzt. Ich möchte da Udi Aloni zitieren, einen israelischen Juden: “Leider scheint es so zu sein, dass je mehr Israel sich von universellen Werten distanziert, die ‘guten Deutschen’ ein dringendes Bedürfnis verspüren, Israel desto harscher zu verteidigen… Welche Richtung des Judentums wollen wir bewahren? Die von Judith Butler, Tony Kushner, Daniel Barenboim, Franz Rosenzweig, Franz Kafka, Sigmund Freud, Gershom Scholem, Martin Buber, Walter Benjamin, Rosa Luxemburg und Hannah Arendt? Oder die von Benjamin Netanjahu, Sheldon Adelson, Naftali Bennet und Avigdor Lieberman? Das ist die Frage, die Deutsche stellen sollten, bevor sie sich in ein imaginäres Judentum einwickeln wie in einen Gebetsschal und dem Staat Israel bedingungslose Treue schwören.”

Es ist doch überhaupt kein Problem, Kritik an israelischer Politik zu üben.

Dutschke: Doch, finde ich schon. Es wird immer von proisraelischen Organisationen betont, dass man Israel nicht kritisieren dürfe.

Es macht ja auch einen Unterschied aus, ob ich ein Land an sich kritisiere oder eine bestimmte Politik, die es dort gibt.

Dutschke: Gut, ich meine israelische Politik. Udi Aloni hatte Deutschland besucht und zeigte sich bestürzt darüber, dass viele Deutsche alles, was in Israel geschieht, bedingungslos akzeptieren.

Meine Erfahrung ist eine andere. Ich finde sogar, dass es in Deutschland und weltweit recht viel Kritik an Israel gibt – gemessen daran, wie klein das Land eigentlich ist und ganz unabhängig davon, wie gerechtfertigt solche Kritik ist.

Dutschke: Es hängt nicht von der Größe des Landes ab. Ich finde, dass einfach differenziert werden muss. Wenn ich etwas in Israel kritisiere, möchte ich das nicht als Kritik an Juden missverstanden wissen. Und das wird oft gemacht.

Okay, aber was ist damit gemeint: Welche Richtung von Judentum wollen wir bewahren? Juden sollen sich selbst bewahren und in all ihren Facetten tun, was sie für richtig halten.

Dutschke: Aloni fragt danach, welche Richtung Deutschland unterstützen sollte – eine unterdrückende Regierung, die Rechte eines bestimmten Bevölkerungsteils abschafft oder eben jene, welche die Menschenrechte unterstützen und sich gegen die Entrechtung der Palästinenser wehren.

Die Politik der Likud-Partei unter Netanjahu steht doch nicht für ein Judentum an sich.

Dutschke: Nachdem was ich darüber gelesen habe, bin ich anderer Meinung.

Wird in Deutschland so viel klaglos hingenommen? Selbst der Bundesregierung kommen kritische Worte ob des Siedlungsbaus über die Lippen.

Dutschke: Das soll sie ja auch. Aber Aloni sagt, dass solch eine Kritik von den meisten Deutschen als Antisemitismus betrachtet wird. Die Frage lautet: Sollte Deutschland Israel unter allen Umständen unterstützen, wenn Israel Menschenrechte abschafft?

Man kann ein Land als souveränen Staat unterstützen und trotzdem dort die Politik kritisieren.

Dutschke: Und wie ist es mit Waffenlieferungen, damit Menschen ermordet werden und Landstriche zerstört werden? Deutschland liefert ja.

Nun, deutsche Waffenexporte haben eine traurige Tradition, da bilden die an Israel keine Ausnahme.

Dutschke: Schlimm genug. Solch eine Unterstützung ohne jeglichen Blick auf die Menschenrechtslage kann auch negativ auf andere Minderheiten in Deutschland wirken. Ist diese bedingungslose Unterstützung Deutschlands für Israel nicht auch ein Grund für den wachsenden Antisemitismus in den muslimischen Gruppen Deutschlands? Der war doch ursprünglich nicht da.

Antisemitismus in muslimischen Milieus gibt es seit langem – wegen der ungelösten Probleme zwischen Israelis und Palästinensern. Die deutsche Politik ist da eher bedeutungslos.

Dutschke: Wenn diese Probleme einen Antisemitismus bewirken, bleibt es doch nicht folgenlos, wenn man umstandslos israelische Politik unterstützt.

Ich kann keine große umstandslose Unterstützung erkennen. Was garantiert wird, ist das Existenzrecht Israels.

Dutschke: Es ist nicht die Frage, ob Israel existieren soll oder nicht. Daniel Barenboim zum Beispiel ist Israeli und lebt in Deutschland – er ist kritisch, stellt aber nicht das Existenzrecht in Frage…

… und der genannte Martin Buber war ein begeisterter Zionist.

Dutschke: Ja, aber er war ein linker Zionist.

Gretchen und Rudi Dutschke bei einem London-Besuch im Jahr 1970. (Bild: AP)
Gretchen und Rudi Dutschke bei einem London-Besuch im Jahr 1970. (Bild: AP)

Apropos links: Worin unterschied sich Ihr Mann Rudi von Kunzelmann?

Dutschke: Rudi hatte einen christlichen Hintergrund, sah in Jesus ein Beispiel, wie man leben kann – mit der Liebe als Handlungsprinzip. Das hatte Kunzelmann garantiert nicht, das hätte er lächerlich gefunden.

Warum wird so wenig öffentlich wahrgenommen, dass Rudi Dutschke ein religiöser Mensch war?

Dutschke: Das weiß ich nicht, ist dem so? Vielen Linken war es damals rätselhaft. Für machohafte Männer war Religiosität komisch. Es waren mehr Frauen, die in die Studentenbewegung Religiöses einbrachten.

War Ihr Mann ein Macho?

Dutschke: Das glaube ich nicht. Er bemühte sich, keiner zu sein. Okay, manchmal war er einer.

Lag das an seiner Religiosität?

Dutschke: Jedenfalls erzählte er mir, dass er als vierter Junge in der Familie aufwuchs, da gab es keine Mädchen. Seine Mutter aber hatte sich ein Mädchen gewünscht und ihm ein paar Dinge beigebracht, die gemeinhin eher Mädchen machten, also Nähen zum Beispiel. Vielleicht entwickelte Rudi dadurch ein Verständnis, offen zu sein. Er wollte sehen, warum die Menschen leiden, was sie zu sagen haben. Wenn ich ihm sagte, wie daneben Kunzelmann sich zum Beispiel benahm, versuchte er es von meinem Gesichtspunkt zu verstehen. Es war Teil seiner Persönlichkeit. Inwiefern sein Glaube da eine Rolle spielte, weiß ich nicht.

Was hätte Ihr Mann empfunden, wenn er den Mauerfall 1989 erlebt hätte? Immerhin hatte auch er mal “rübergemacht”.

Dutschke: Er hatte sich immer die Wiedervereinigung gewünscht. Er erträumte sich davon eine demokratische Form des Sozialismus, dass beide Systeme voneinander lernen und etwas Drittes entwickeln. Es hätte ihn traurig gemacht, dass die damalige Demokratiebewegung der DDR am Ende einfach überrollt worden ist. Ich denke noch heute darüber nach, ob diese Bewegung noch einmal wiederbelebt werden könnte. Ich sehe da zwar keinerlei Anzeichen, wundere mich aber, ob das nicht etwas sein könnte!

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