Grünen-Führungsduo trotz Umfrageschwäche wiedergewählt
Karlsruhe (dpa) - Auf einem von emotionalen Auftritten und Selbstvergewisserung geprägten Parteitag haben die Grünen ihre Parteivorsitzenden, Ricarda Lang und Omid Nouripour, im Amt bestätigt. Die rund 800 Delegierten ermöglichten dem Führungsduo damit in Karlsruhe eine weitere zweijährige Amtszeit. Mehrere Kampfkandidaturen gab es bei der Besetzung der vorderen Listenplätze für die Europawahl im kommenden Juni.
Als ihre Nummer eins schicken die Grünen Terry Reintke (36) in den Europawahlkampf. Die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament erhielt 95,2 Prozent der Stimmen. Die 36-Jährige sagte in ihrer Bewerbungsrede: «Wir werden nächstes Jahr mit aller Kraft gegen einen Rechtsruck im Europäischen Parlament kämpfen müssen.» Sie wandte sich auch gegen Verschärfungen der europäischen Migrationspolitik und sagte: «Unser Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit endet nicht an den europäischen Außengrenzen». Reintke trat ohne Gegenkandidaten an.
Lang (29) holt auf dem für Frauen reservierten Platz ohne Gegenkandidatinnen 82,3 Prozent der Stimmen und erreicht damit ein besseres Ergebnis als bei ihrer ersten Wahl. Sie hatte im Januar 2022 bei einem digitalen Parteitag 75,93 Prozent der Stimmen erhalten. Die Wahl musste damals noch per Brief bestätigt werden, dabei erhielt sie 78,73 Prozent der Stimmen.
Nouripour (48) setzt sich in Karlsruhe gegen einen Außenseiter aus Schleswig-Holstein durch und erhält 79,1 Prozent der Stimmen. Die mit Stimmgeräten durchgeführte Wahl der Parteispitze sollte noch beim Parteitag in Karlsruhe mit Stift und Zettel bestätigt werden, Nouripour schneidet diesmal etwas schlechter ab als beim letzten Mal: Er hatte 2022 zunächst 82,6 Prozent bekommen, bei der späteren Briefwahl waren es sogar 91,7 Prozent. Damals hatte er zwei Gegenkandidaten.
Eine Frau der leisen Töne
Die politische Bundesgeschäftsführerin Emily Büning wird mit 83,3 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Das ist schlechter als bei der vorigen Wahl (88,4 Prozent beim Parteitag, 91,4 Prozent in der späteren Briefwahl). Ihre Position entspricht der eines Generalsekretärs bei anderen Parteien - sie ist aber eher eine Frau der leisen Töne. «Wir sehen die Sorgen und Verunsicherungen der Bürgerinnen, die gestiegenen Preise, das Auseinanderbrechen unserer Gesellschaft, die Folgen des Klimawandels», so Büning und verspricht: «Wir nehmen diese Probleme ernst und wir müssen sie lösen.»
Bemerkenswerter als der Inhalt der ersten Debatten, in denen es um den Haushalt, die Last der Verantwortung und die Haltung der Bundesregierung zu Israel geht, ist vielleicht, was in Karlsruhe nur am Rande gestreift wird: Der Knatsch in der Ampel, das laut Demoskopen geschrumpfte Wählerpotential für die Grünen, völkerrechtliche Fragen zum Gaza-Krieg und die Gründe für den Höhenflug der AfD. Erstaunlich für eine Partei, die sich gern für ihre Diskussionswut und lebendige Streitkultur feiert. Stattdessen gibt es viel Gefühl und Balsam für die Parteiseele in Zeiten mäßiger Umfragewerte.
Als es gut lief, erzielten die Grünen bei Wählerumfragen Prozentwerte in den mittleren Zwanzigern - so wie im Frühjahr vor dem Bundestagswahlkampf 2021 oder im Sommer 2022, als Wirtschaftsminister Robert Habeck für die Absicherung der deutschen Energieversorgung kämpfte und um Beistand für die angegriffene Ukraine warb. Heute stehen die Grünen wieder bei um die 15 Prozent - auf Höhe ihres Bundestagswahlergebnisses und damit weit unter den öffentlich formulierten eigenen Ambitionen.
Tag mit emotionalen Momenten
Man habe am ersten Tag «einige sehr emotionale Momente erlebt», bilanziert Büning – vor allem bei der Vorstellung des Dringlichkeitsantrags zu Israel durch Außenministerin Annalena Baerbock. Die Grüne-Ministerin hatte ausführlich ihre Gefühle bei persönlichen Begegnungen mit Betroffenen geschildert.
Am zweiten Tag weht einmal ein Hauch von Selbstkritik durch den Saal der Karlsruher Messe: Lang warnt ihre Parteifreunde davor, sich mit einem Platz in der Nische zu begnügen. Sie mahnt: «Wir müssen den Menschen zugewandt bleiben, so wie die Menschen sind.»
Lang kommt aus Baden-Württemberg und rechnet sich dem linken Parteiflügel zu. Sie war einst Chefin der Nachwuchsorganisation Grüne Jugend. Ihr Schwerpunkt ist die Sozialpolitik. Nouripour ist Realo, langjähriger Bundestagsabgeordneter aus Frankfurt am Main mit einem außenpolitischen Fokus.
Lang und Nouripour arbeiten ohne ersichtliche Probleme zusammen. Beide treten weniger profiliert auf als ihre Vorgänger an der Parteispitze, Habeck und Baerbock.
Lang «unfassbar stolz»
In ihrer Bewerbungsrede zählt Lang Erfolge der Grünen als Teil der Ampel-Koalition mit SPD und FDP auf. «Ich bin so unfassbar stolz darauf, was wir in den letzten beiden Jahren geleistet haben», sagt sie. Als Beispiele nennt sie unter anderem die Sicherung der Gasversorgung im vergangenen Winter und das 49-Euro-Ticket.
Nouripour betont insbesondere die gute Zusammenarbeit mit Lang. Auf eine Frage nach der Stimmung in der Ampel-Koalition räumt er ein: «Wir haben zu viel Streit.» Das müsse weniger werden. Seiner Partei spricht er Mut zu. «Das Wichtigste ist, was im Land ankommt und nicht, wie es uns damit geht.» Auf eine Frage nach privater Seenotrettung im Mittelmeer antwortet Nouripour: «Leute, die Menschen vor dem sicheren Tod retten, die sollte man nicht kriminalisieren, denen sollte man einen Orden verleihen.»
Nouripour, der in Teheran aufgewachsen ist und im Alter von 13 Jahren mit seiner Familie nach Deutschland kam, berichtet in seiner Bewerbungsrede von furchtbaren Folgen seiner politischen Arbeit für Angehörige im Iran. Nachdem er sich im vergangenen Jahr deutlich zu den mutigen Frauen im Iran geäußert habe, habe er Anrufe von Verwandten erhalten, «die mich gefragt haben, ob ich es auch leiser machen kann, weil sie aufgrund meiner Arbeit hier bedroht worden sind». Er fügt hinzu: «Und nicht alle haben das überlebt.» Im Iran hatten im September 2022 Massenproteste gegen die Regierung und das islamische Herrschaftssystem begonnen.
Den Wettbewerb um Platz zwei der Europaliste entscheidet in Karlsruhe der Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky (47) für sich. «Wir entlarven rechte Wölfe auch im linken Schafspelz», sagt er an die Adresse von Sahra Wagenknecht. Die langjährige Linken-Abgeordnete hat für Januar die Gründung einer neuen Partei angekündigt, die ihren Angaben zufolge bei der Europawahl am 9. Juni 2024 antreten soll. Anna Cavazzini (40), die für sich reklamiert, das einheitliche Ladekabel in Europa durchgesetzt zu haben, setzt sich im Rennen um Platz drei durch.