Kanzlerkandidatur der Grünen - Auf dem steinigen Weg zur Kanzlerin kämpft Baerbock nicht nur gegen Habeck

Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), Außenministerin, spricht mit Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz.<span class="copyright">Michael Kappeler/dpa</span>
Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen), Außenministerin, spricht mit Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz.Michael Kappeler/dpa

Die Bundestagswahl steht vor der Tür und die Grünen befinden sich in einer tiefen Krise. Trotzdem sind ihre Ambitionen weiter groß. Rufen sie Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin aus? Ob Baerbock reale Chancen hat und welche Konsequenzen für Partei, Wahlkampf und Land daraus erwachsen, erläutert Sozialforscher Andreas Herteux.

Wird Annalena Baerbock die nächste deutsche Kanzlerin?

Die Frage ist vielleicht etwas verfrüht, denn um Kanzlerin zu werden, bedarf es nicht nur einer absoluten Mehrheit der Abgeordnetenstimmen im Bundestag, sondern, viel früher schon, einer Nominierung durch die eigene Partei.

Bereits letzteres ist alles andere als sicher. Das liegt auch am internen Richtungsstreit, der durch die schlechten Umfragewerte und die Ergebnisse der Europawahlen neu entflammt ist. Innerhalb der Grünen gibt es grundsätzlich zwei Flügel. Einen realpolitischen („Realos“) und einem fundamentalistischen (früher: „Fundis“), wobei sich beide im Laufe der Jahrzehnte inhaltlich stark verändert haben.

Während manch Angehöriger des fundamentalistischen Teils sich früher gerne auch einmal als „Ökosozialist“ bezeichnete und eine Regierungsbeteiligung ablehnte, dominieren dort heute nicht selten postmaterielle Thesen sowie Lösungsansätze, die ab den 2010ern aus dem universitären Umfeld den Weg in die Partei gefunden haben.

Derartige Ideen spielen im begrenzten Umfang auch bei den realpolitische Vertretern eine Rolle, allerdings stehen sie bei diesen nicht so sehr im Vordergrund. Im Gegenteil wird inzwischen von dieser Seite nicht selten auf die Diskrepanz zwischen den ambitionierten Zielen und der Akzeptanz für deren Umsetzbarkeit in der Bevölkerung hingewiesen.

Manche Strategiepapiere haben auch schon vor Abfassung des Koalitionsvertrages davor gewarnt, identitätspolitische- sowie postmaterielle Themen mit der sozial-ökologischen Transformation zu vermischen, allerdings setzten sich an dieser Stelle die Befürworter eines noch „größeren Wurfes“ durch. Letztendlich auch, weil man beim Koalitionspartner SPD Gleichgesinnte fand.

Und so vereinen sich nun die Dekarbonisierung mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes oder der Idee eines migrantischen Partizipationsgesetzes für den öffentlichen Dienst. Durch diese Verschmelzung ist eine Entkopplung und eine differenzierte Einzelbewertung von Vorhaben für die Bevölkerung nun schwer möglich.

Baerbock als auch Robert Habeck gelten beide als „Realos“, allerdings scheint der post-materielle Flügel mehr zur aktuellen Außenministerin zu neigen.

Verschiedene Interessensgruppen werden daher in den nächsten Monaten viel daransetzen, den jeweils weniger gewollten Kandidaten zur Aufgabe zu bewegen. Wenn keiner zurückzieht, wird es am Ende höchstwahrscheinlich auf eine Urwahl, d.h. eine Mitgliederbefragung hinauslaufen. Ob Annalena Baerbock eine solche gewinnen kann, bleibt abzuwarten.

Wäre Annalena Baerbock eine starke Spitzenkandidatin?

Annalena Baerbock würde die Strategen der Grünen als Spitzenkandidatin vor sehr großen Herausforderungen stellen, denn die politische Marke ist durch die Vergangenheit zumindest belastet. Eine widerspruchsfreie Platzierung ist an dieser Stelle ein ambitioniertes sowie auch komplexes Unterfangen mit vielen kaum planbaren Variablen.

Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es bei dieser Einschätzung nicht um den Menschen geht und am Ende auch nur begrenzt um die tatsächliche Leistung oder Kompetenz, sondern fast ausschließlich um die Wahrnehmung verschiedener Attribute durch Dritte.

Relevant ist am Ende, welche Eigenschaften die Wähler der Kandidatin zuschreiben, nicht, welche sie wirklich besitzt oder wen die eigene Blase in ihr sehen möchte. An dieser Stelle gibt es Altlasten aus der Kandidatur 2021, die fest mit ihr verbunden sind und so Teil des Images wurden.

Das ist der Preis für einen missglückten Persönlichkeitswahlkampf, bei dem sich Partei und Inhalte in Baerbock bündeln sollten. Eine Personifizierung und Symbiose. Die Spitzenkandidatin der Erneuerung, frisch, kompetent und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Eine junge Frau, die gegen die älteren weißen Männer aus dem Establishment, Olaf Scholz und Armin Laschet, antritt. Eine, die das System verändern will.

Das hätte auch funktionieren können, denn damals waren die Grünen mit teilweise über 25 Prozent gelegentlich sogar stärkste Partei in den Umfragen. Die Strategie scheiterte dann aber bekanntlich an der Kandidatin selbst sowie dem Umgang mit der Krise und aus der unverbrauchten sowie hochbegabten Newcomerin, wurde in den Augen der Wähler eine unerfahrene Aufsteigerin, bei der die Kompetenzen und Qualifikation offen hinterfragt wurden.

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Dieses Image haftet noch heute, ob nun berechtigt oder nicht, an Annalena Baerbock und auch das Wirken als Außenministerin hat an dieser Stelle wenig verändert. Ihr Fundament, die feministische Außenpolitik, entzauberte sich in Zeiten internationaler Krisen schnell als postmaterielles Ideal, das in den Untiefen der Realität mangels Seetauglichkeit untergeht. Ansonsten hat sie bislang keinen nachhaltigen Eindruck im Amt hinterlassen und wird es voraussichtlich auch nicht mehr bis zum Ende der Legislaturperiode.

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Es würde daher eine wirkliche Herausforderung werden, den sogenannten „Marken-Turnaround“ zu schaffen.

Wäre Robert Habeck der bessere Kanzlerkandidat?

Die aktuelle Legislaturperiode verlief bislang sicher auch für Robert Habeck nur sehr begrenzt positiv, allerdings scheint er als politische Marke längst noch nicht so verbraucht zu sein wie seine Kollegin im Außenministerium.

Zudem arbeitet der Wirtschaftsminister, der zweifellos auch ein weitaus besserer Kommunikator als Annalena Baerbock ist, kontinuierlich daran, das angeschlagene Image wieder zu stabilisieren, räumt Versäumnisse so ein, dass sie möglichst nicht auf ihn zurückfallen, positioniert sich auch immer wieder einmal kanzlergleich bei medialen „Mitnahmethemen“ und versucht so klar seine Ambitionen zu manifestieren.

Auch, wenn der post-materielle Flügel die Außenministerin für „empathischer“ hält, hat Habeck inzwischen die Rückendeckung vieler „Realos“, ist besser vernetzt und bespielt diese Verbindungen auch geschickt bzw. hat die entsprechenden Persönlichkeiten, die an dieser Stelle eine gewisse Begabung aufweisen. Zudem hat er nur mit aktuellen, nicht aber mit Altlasten zu kämpfen.

Die These, dass ein grüner Wahlkampf mit Robert Habeck erfolgreicher wäre, ist daher eine, für die sich Argumente finden lassen würden.

Die Umfragen stehen schlecht. Mit welchen Strategien möchte die Partei in den Wahlkampf gehen?

Das ist im Moment natürlich spekulativ, da es bis Herbst 2025 neue externe Einflussfaktoren geben kann, die eine Anpassung oder Änderung bedingen. Ebenso ist es theoretisch möglich, dass wichtige Themen des Augenblicks plötzlich im Wahljahr nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.

Daher kann nur vom aktuellen Standpunkt aus gemutmaßt werden: Setzt sich der post-materielle Flügel durch, dann könnte es wohl eine Art „Märtyrerkampagne“ geben, nach der die Grünen in Regierungsverantwortung nichts falsch gemacht hätten, sondern mehr oder weniger durch die äußeren Umstände, man denke hier nur an den Krieg in der Ukraine handlungseingeschränkt sowie durch Medien, Opposition, Lobbyisten und Ampelkoalitionspartner - im visionären Streben nach einer besseren Zukunft - in Misskredit gebracht wurden.

Inhaltlich sollte es in diesem Szenario wenig Veränderungen geben. Das würde dann ein Lagerwahlkampf, der nicht nur das postmaterielle Milieu (12 Prozent der Bevölkerung), sondern auch das neo-ökologische (8 Prozent) sowie vielleicht auch Teile des Expeditiven Feldes (ca. 10 Prozent) oder der Performer (ca. 10 Prozent), alles Milieus welcher der sozial-ökologischen Transformation nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, aktivieren soll. Auf die Lebenswirklichkeiten der Mitte könnte man wohl keinen Schwerpunkt setzen.

Der realpolitische Flügel würde die Darstellung als „Opfer der Umstände“ wohl weitaus dosierter bespielen, und dafür mehr auf eine unpassende Kommunikationsstrategie sowie das zu hohe Tempo verweisen und sich bei einigen Themen, wie beispielsweise Abschiebungen, konservativer zeigen. Das wäre dann das Bild des geläuterten Visionärs, der das Beste und Richtige möchte, aber es schlicht nicht gut erklärt konnte. Damit würde man auch wieder versuchen, die Milieus der Mitte zu erreichen.

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Letztendlich reden wir aber nur von möglichen Wahlkampfstrategien und bedienen uns dabei, das sei erneut betont, spekulativer Elemente auf Basis der aktuellen Stimm- und Diskussionslage in der Partei. Nicht mehr. Von einer erfolgreichen Umsetzung haben wir dagegen gar nicht gesprochen.

Können wir daher doch nicht mit einem grünen Kanzler rechnen?

Die Grünen befinden sich in einem negativen Trend, der auch noch durch den Zeitgeist dynamisiert wird. Bereits die Landtagswahlen 2024 dürfte nicht positiv verlaufen und auch bei der Bundestagswahl wird das Ergebnis nicht einmal im Ansatz genügen, um Ansprüche auf das Amt des Kanzlers stellen zu können.

Trotzdem wird die Partei wichtig bleiben. Sie mag zwar im Moment auf ihre Kernwähler, die zu beachtlichen Teilen aus dem postmateriellen Milieu (ca. 12 Prozent der Bevölkerung) stammen, zusammengeschrumpft sein,  aber ein Ergebnis rund um 8 Prozent sollte den absolute Tiefpunkt darstellen. Eher werden es, nach heutigem Stand, ein paar Prozent mehr. Die Grünen sind ein Machtfaktor und werden auch einer bleiben. Sie haben auch eine wichtige repräsentative Funktion für Teile der Bevölkerung.

Damit wäre man immer noch stark genug, um als Koalitionspartner interessant zu sein. Selbst Friedrich Merz hat vor einigen Monaten ein Zusammengehen nicht ausgeschlossen und in der CDU gibt es noch weitere lautstarke Befürworter einer solchen Verbindung. So unwahrscheinlich die Kanzlerschaft auch sein mag, eine weitere Regierungsbeteiligung ist nicht vollkommen unrealistisch.