Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Der wichtige Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine scheint zerstört. Präsident Selenskyj macht «russische Terroristen» dafür verantwortlich. Moskau wiederum beschuldigt Kiew. In der Region drohen Überschwemmungen. Das Ausmaß ist noch nicht absehbar.

Ein wichtiger Staudamm nahe der Front ist schwer beschädigt worden. (Bild: Uncredited/Maxar Technologies/AP/dpa)
Ein wichtiger Staudamm nahe der Front ist schwer beschädigt worden. (Bild: Uncredited/Maxar Technologies/AP/dpa)

Im von Russland besetzten Teil der Südukraine ist nach Angaben beider Kriegsparteien ein großer und wichtiger Staudamm nahe der Front schwer beschädigt worden. Kiew und Moskau machten sich am Dienstagmorgen gegenseitig für den Vorfall in der Region Cherson mit potenziell gravierenden Folgen verantwortlich. Das ukrainische Einsatzkommando Süd teilte mit, die russischen Besatzer hätten den Damm in der Stadt Nowa Kachowka gesprengt. Der Militärgouverneur des Gebiets, Olexander Prokudin, warnte, innerhalb von fünf Stunden könne der Wasserstand eine kritische Höhe erreichen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj rief in Kiew den nationalen Sicherheitsrat ein. Militärgouverneur Prokudin erklärte, auf der rechten Seite des Flusses Dnipro - wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt - sei mit Evakuierungen begonnen worden. «Das Ausmaß der Zerstörung, die Geschwindigkeit und Menge des Wassers sowie die wahrscheinlichen Überschwemmungsgebiete werden gerade bestimmt», erklärte er.

Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden am Kachowka-Staudammverantwortlich. «Das Wasser ist gestiegen», sagte der von Moskau eingesetzte Bürgermeister in Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, staatlichen russischen Nachrichtenagenturen zufolge. Von Überschwemmungen betroffen könnten seinen Aussagen zufolge rund 300 Häuser sein, ein «kleiner Teil der Bevölkerung» müsse möglicherweise in Sicherheit gebracht werden.

Leontjew räumte außerdem ein, dass es zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der bereits 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte, die südlich von Cherson liegt. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert. Die Angaben beider Seiten zu dem Vorfall am Staudamm konnten zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

In ukrainischen Medien und in sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die dem Anschein nach bereits gestiegenen Wasserstände um die Stadt Cherson zeigten. Außerdem wurden Aufnahmen geteilt, auf denen offenbar die ausströmenden massiven Wassermengen an der Staudammmauer in Kachowka zu sehen waren. Die Echtheit der Videos konnte zunächst nicht unabhängig überprüft werden.

Angesichts der angespannten Lage berief Präsident Selenskyj den Sicherheitsrat ein. «Russische Terroristen», schrieb Selenskyj außerdem auf Twitter. «Die Zerstörung des Damms des Kachowka-Wasserkraftwerks beweist der ganzen Welt, dass sie aus jeder Ecke der Ukraine vertrieben werden müssen.»

Die Ukraine hat Russland ein klares Motiv zugeschrieben. Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen, schrieb Präsidentenberater Mychajlo Podoljak im Kurznachrichtendienst Twitter. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen. Russland müsse international als Terrorstaat eingestuft werden.

«Auf einem riesigen Territorium wird alles Leben zerstört», schrieb Podoljak. «Viele Ortschaften werden zerstört; der Umwelt wird enormer Schaden zugefügt.» Im Fernsehen fügte er hinzu, dass Russland mit dem Anschlag im umkämpften Gebiet Cherson die Initiative im Krieg wieder an sich reißen und die europäischen Staaten einschüchtern wolle. Das Gebiet ist zum größten Teil von russischen Truppen besetzt, sie kontrollieren auch das Kraftwerk und damit den Füllstand im Stausee. Die Gebietshauptstadt Cherson ist unter ukrainischer Kontrolle.

Umgesetzt habe die Sprengung des Wasserkraftwerks nach ersten Erkenntnissen die 205. Motorisierte Schützeneinheit der russischen Armee, sagte Podoljak. Der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte deshalb mehr Tempo bei den westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Jeder müsse verstehen, dass es für Moskau keine roten Linien gebe.

Atombehörde: Keine «unmittelbare Gefahr» für AKW Saporischschja

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms besteht laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) keine unmittelbare Gefahr für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja. «IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau», teilte die Behörde am Dienstagmorgen auf Twitter mit. «Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk.» Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das AKW - das ebenso wie der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro liegt - sei nicht betroffen. Die Atom-Anlage ist infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt.

«Russland wird diesen Krieg verlieren»

Vor der geplanten Großoffensive gegen die russische Invasion hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Moskau eine Niederlage in dem Kampf vorhergesagt. «Russland wird diesen Krieg verlieren», sagte Selenskyj. «Der Feind weiß, dass die Ukraine gewinnen wird. Sie sehen das. Sie fühlen das dank unserer Schläge, Soldaten und vor allem in der Donbass-Region», sagte der Staatschef in seiner in Kiew verbreiteten abendlichen Videobotschaft.

Dennoch gab es Berichten zufolge auch in der Nacht erneut landesweit Luftalarm in der Ukraine. In den frühen Morgenstunden waren in verschiedenen Bezirken der Hauptstadt Kiew heftige Explosionen zu hören, wie «Ukrajinska Prawda» berichtete. Laut Militärverwaltung und Bürgermeister Vitali Klitschko sei die Luftabwehr aktiviert worden, so das Internetportal. Im russischen Angriffskrieg verteidigt sich die Ukraine seit der Invasion vom 24. Februar 2022 gegen das Nachbarland.

KYIV, UKRAINE - JUNE 1: Vitali Klitschko (C) im Gespräch mit der Presse (Photo by Vladimir Shtanko/Anadolu Agency via Getty Images)
KYIV, UKRAINE - JUNE 1: Vitali Klitschko (C) im Gespräch mit der Presse (Photo by Vladimir Shtanko/Anadolu Agency via Getty Images)

Vorstöße der ukrainischen Truppen im Gebiet Donezk

Selenskyj lobte in seiner abendlichen Ansprache insbesondere Vorstöße der ukrainischen Truppen im Gebiet Donezk in Richtung der Stadt Bachmut, die Russland schon für erobert erklärt hatte. Die Erfolge dort seien die Nachrichten, auf die die Ukraine gewartet habe, sagte er. «Wir sehen, wie hysterisch Russland jeden unserer Schritte, jede Position, die wir einnehmen, beobachtet.»

Dennoch weigere sich der Machtapparat in Moskau weiter, die Realität anzuerkennen. Russland versuche vielmehr, die Welt zu täuschen, Sanktionen zu umgehen und mehr Waffen zu produzieren.

Die Ukraine werde hingegen weitere Schritt unternehmen, um Russlands militärisches Potenzial zu schmälern, kündigte der Staatschef an.
«Jeder in der Welt, der dem Terrorstaat hilft, Sanktionen auf die eine oder andere Weise zu umgehen; jeder in der Welt, der von Russland für die Lieferung von Waffen, Bauteilen und Ausrüstung benutzt wird, muss die ganze Wucht der freien Welt zu spüren bekommen», betonte er.

Selenskyj hatte gestern auch den britischen Außenminister James Cleverly in Kiew getroffen und ihm für die militärische Unterstützung Londons gedankt. Vor allem die Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow, die eine große Reichweite haben, hätten sich als sehr effektiv an der Front erwiesen, meinte der Präsident.

Ukrainische Luftfahrtspezialisten nach Großbritannien aufgebrochen

Zudem bereitet sich Kiew auf die geplante Ausbildung ukrainischer Piloten in Großbritannien vor. Regierungschef Denys Schmyhal dankte London bei einem Treffen mit Cleverly «für die Bereitschaft, Piloten auszubilden». Die Männer dafür seien bereits ausgewählt. Der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Juri Ihnat, sagte «Ukrajinska Prawda», dass noch keine Piloten das Land verlassen hätten. «Die ersten Gruppen von Luftfahrtspezialisten sind aufgebrochen und prüfen die Möglichkeit einer weiteren Ausbildung ukrainischer Piloten.»

Ihnat führte gegenüber «Ukrajinska Prawda» weiter aus, es gehe um eine Ausbildung in verschiedenen Stufen von Fachkräften, darunter Luftfahrtingenieure, die Flugzeuge täglich warten müssten, und Offiziere, die die Gefechtskontrolle hätten. Es gehe nicht nur um Piloten, sagte Ihnat. Präsident Selenskyj hatte zuletzt immer wieder von einer «Kampfjet-Koalition» gesprochen, an der sich mehrere Staaten beteiligen. Die Ukraine erhofft sich eine Lieferung von 48 Kampfjets des US-Typs F-16, um im Kampf gegen den russischen Angriffskrieg die Hoheit über ihren Luftraum wiederzuerlangen.

Schmyhal lobte - wie zuvor auch Kiews Außenminister Dmytro Kuleba - bei dem Treffen mit Cleverly, dass London noch in diesem Monat eine Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine organisiere. Davon erhoffe man sich insbesondere Ressourcen für den Wiederaufbau. Cleverly, der im Kurznachrichtendienst Twitter auch ein Foto von seinem Treffen mit Selenskyj veröffentlichte, teilte mit: «Die Ukraine kann auf unsere Unterstützung zählen. So lange, wie es nötig sein wird».

Kremlfeindliche Kämpfer verkünden Einnahme russischer Ortschaft

Derweil kämpft Russland nicht nur in der Ukraine, sondern sieht sich auch mit massivem Beschuss und teilweisem Kontrollverlust in seiner Region Belgorod konfrontiert. Kremlfeindliche Rebellen brachten in der Region nach eigenen Angaben die Ortschaft Nowaja Tawolschanka komplett unter ihre Kontrolle.

Weil der russische Machtapparat sich nicht für das Schicksal der Region interessiere und die Lage nicht mehr im Griff habe, hätten sie nun das Handeln übernommen, teilte das Russische Freiwilligenkorps RDK gestern mit. Nowaja Tawolschanka sei kein kleines Dorf, sondern ein Ort mit einst 5000 Einwohnern. «Jetzt ist er leer», sagte ein Bewaffneter auf einem Video. Der Gouverneur von Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, räumte nach tagelangem Beschuss des Gebiets indirekt ein, in dem Ort nicht mehr Herr der Lage zu sein.

In Nowaja Tawolschanka nahe der Stadt Schebekino könnten die noch verbliebenen 100 Menschen nicht gerettet werden, weil dort geschossen werde, sagte Gladkow in einem Video. Das Verteidigungsministerium in Moskau spricht von «Terroristen» und «Saboteuren», die von ukrainischer Seite mit Artillerie feuerten und teils auch in russisches Staatsgebiet eingedrungen seien. Das Ministerium hatte vorige Woche mitgeteilt, mehr als 120 Kämpfer und Militärtechnik «vernichtet» zu haben. Aus Moskau gab es zunächst keine Reaktion zur Lage in Nowaja Tawolschanka.

Die Kämpfer des Freiwilligenkorps, das aus russischen Nationalisten besteht, boten in dem bei Telegram veröffentlichten Video auch an, mit Vertretern des Machtapparats in Moskau zu sprechen, weil Gouverneur Gladkow selbst ohne Einfluss auf die Situation sei.

Das RDK kämpft nach eigenen Angaben für ein freies Russland. Die ukrainische Führung hatte zurückgewiesen, etwas direkt mit den Angriffen auf die russische Region zu tun zu haben. Im Gebiet Belgorod gab es durch das Feuer von ukrainischer Seite bereits mehrere Tote und Verletzte unter Zivilisten. Russland hatte seinen Krieg gegen die Ukraine 2022 auch vom Gebiet Belgorod aus begonnen.

Was heute wichtig wird

Im Osten der Ukraine wird erwartet, dass die Truppen Kiews dort ihre Offensivhandlungen in verschiedene Richtungen fortsetzen. Als Schwerpunkt gilt weiter die von russischen Truppen besetzte Stadt Bachmut. Die Ukraine will diese zurückerobern. In der russischen Region Belgorod ist indes die Lage wegen Beschusses von ukrainischer Seite gespannt.