Mastermind des Wir-Gefühls - Rudi Völler schuf die neue deutsche Fußballlust - und verriet mir, wie es ging
Wo auch immer Rudi Völler auftritt, fliegen ihm die Herzen zu. Das hilft der Nationalmannschaft. Unserem EM-Kolumnisten erzählt er, was Deutschland unter Bundestrainer Julian Nagelsmann gerade richtig macht - und was seine Rolle bei all dem ist.
Jetzt also doch: Der DFB dreht seine eigene EM-Dokumentation im Mannschaftsquartier in Herzogenaurach. Zwar heimlich, damit die Dreharbeiten kein Aufsehen erregen. Aber doch TV-tauglich für den Fall, dass Deutschland den erhofften Titel gewinnt.
Nichts soll an den Trübsinn erinnern, den Bundestrainer Hansi Flick bei der WM 2022 in Katar verbreitet hat. Sein Nachfolger Julian Nagelsmann verbindet Leistungswille mit guter Laune: So und nicht anders will Rudi Völler das haben - er ist der Macher der neuen deutschen Fußballlust.
Ich treffe ihn auf dem Adidas-Campus im Fränkischen. Per WhatsApp haben wir uns auf einen Kaffee verabredet. Und weil Rudi Völler guter Dinge ist, legt er vorher einen Zwischenstopp bei der DFB-Pressekonferenz im Mediencenter ein.
Von ganzem Herzen, so ist Rudi Völler
Man muss ihn nur beobachten, um zu erkennen, warum ihn die Leute lieben. Auf dem Weg zum Podium, wo Mikrofon und Kaffee auf ihn warten, macht er plötzlich kehrt, er hat gerade einen alten Weggefährten unter den Journalisten erkannt. Er drückt Fotograf Markus Gilliar die Hand, lächelt bei der unverhofften Begegnung.
Er muss das nicht tun. Aber es ist ihm ein Bedürfnis. Ein paar nette Worte, nichts Verbindliches, aber von ganzem Herzen: So ist Rudi Völler.
Als er eine halbe Stunde später die Bühne verlässt, passiert das Gleiche. Er sieht Francesco Archetti, Journalist der italienischen Zeitung Gazzetta dello Sport, und bleibt trotz Terminstress stehen. Wieder: nette Worte, von Herzen - nur diesmal auf Italienisch. Man kennt sich noch aus der Zeit bei AS Rom. Lange her, ja. Dennoch: Come stai? Noch Fragen, warum die Leute singen: Es gibt nur ein’ Rudi Völler?
Völler kann auch anders, das weiß jeder. ARD-Moderator Waldemar Hartmann, wir kennen die berühmte Szene aus seiner Trainerzeit, hätte er bei einem Live-Interview am liebsten Weißbier übers Haupt geschüttet und Günter Netzer gleich mit.
Ein Kollege aus Neuss hat ihn damals angerufen und nach schwarzen Trikots gefragt, die der DFB mit Adidas plante. Völlers Stimme aus dem Telefon soll man noch zwei Büros weiter gehört haben. Ich hatte Glück: Die Gefahr einer akustischen Misshandlung bestand diesmal nicht, als ich ihn zum Gespräch traf. Wir kommen gleich zur Sache...
Wie siehst du deine persönliche Rolle als Sportdirektor hier bei der Nationalmannschaft?
Ich hatte ja schon viele Rollen beim DFB. Spieler, Trainer und jetzt Sportdirektor. Wenn man wie wir jetzt vor dem Turnier ordentliche Freundschaftsspiele und ein gutes Eröffnungsspiel hatte, dann liegt meine Rolle eher im Hintergrund. In den Vordergrund trete ich eher dann, wenn ich das Gefühl habe, ich müsste Brände löschen. Die gab's bisher nicht und wird es bis zum Wochenende auch nicht geben. Deshalb beobachte ich viel, bin in vielen Gesprächen, das macht mir Spaß. Die Truppe, die wir haben, ist einmalig.
Es ist genau 20 Jahre her, dass du Nationaltrainer gewesen bist. Jetzt beobachtest du Julian Nagelsmann als Trainer. Kann man das vergleichen? Ist das für den Trainer heutzutage eine andere Aufgabe als damals?
Natürlich ist es anders. Schon im Vergleich zu meiner aktiven Zeit als Spieler hatte sich viel verändert. Die Kadergröße ist heute eine andere. Die Medienberichterstattung auch, die war 2000, 2002 auch anders, als sie es vielleicht 20 Jahre vorher war. Auch die Trainerstäbe sind größer geworden. Durch die Streamingdienste, durch das Internet, durch die sozialen Medien hat sich ja alles nochmal total verändert. Und damit auch die Trainer. Natürlich musst du authentisch sein, du hast deinen eigenen Stil, aber du musst dich auch auf deine Mitarbeiter verlassen, auf deine Co-Trainer, auf die Analysten, auf alle. Das macht Julian ausgezeichnet. Wie er mit der Mannschaft redet, rhetorisch stark, wie er sie mitzieht.
Ich habe mal nachgezählt: Du hattest in Leverkusen 14 verschiedene Trainer.
Wenn man zwei Jahrzehnte lang in führender Position für einen Profiverein arbeitet, dann ist das sicherlich keine außergewöhnliche Zahl. Zweimal bin ich sogar selbst eingesprungen als Trainer.
In dieser Reihe: Wo würdest du Nagelsmann einordnen? Du kannst ihn ja gut vergleichen mit den vielen verschiedenen Trainertypen, die du hattest.
Nein, da kann man nicht wirklich vergleichen, denn jeder hat ja seine eigene Art. Vom Typ her ist Julian vielleicht ein bisschen wie Roger Schmidt. Er hat einen klaren Stil, eine klare Ansage. Er ist locker, aber er kann auch konsequent sein, so dass jeder mitzieht. Deswegen habe ich mich nach dem Frankreich-Spiel im September vergangenen Jahres, als ich auf der Bank saß, dann auch so stark gemacht dafür, dass wir Julian als Nachfolger von Hansi Flick verpflichten. Ich habe dafür gekämpft, weil ich von ihm auch aus den Gesprächen total überzeugt war. Und ich war es auch, als es im November nicht so lief. Wir wussten immer, dass er ein Toptrainer ist. Darum wollte ich, dass er auch nach der EM unser Nationaltrainer bleibt. Das ist uns ja auch gelungen.
Hättest du als Stürmer Rudi Völler Probleme bei ihm gehabt, weil ein Stürmer heute viel mehr leisten muss als zu deiner Zeit?
Natürlich ist heute alles viel athletischer und es wird etwas mehr gelaufen als früher. Am Ende des Tages musst du als Stürmer aber gewisse Aufgaben erfüllen. Schon damals. Du konntest nicht vorne herumstehen, das gab es früher auch nicht. Das war vielleicht ein paar Jahrzehnte vorher noch so, aber zu meiner Zeit nicht mehr. Es gab immer klare Vorgaben, zum Beispiel von Otto Rehhagel in Bremen. Wir mussten immer auch hinten aushelfen oder vorne pressen. Nur vorne stehen ging nicht.
Du hast davon gesprochen, dass die Spielertypen anders sind als früher. Was meinst du damit genau?
Die Sozialen Medien haben heute einen großen Einfluss in vielen Lebensbereichen, das sehe ich auch an meinen Kindern. Das ist ja normal, selbst in meiner Generation ist das zu beobachten. Wir sind möglicherweise nicht ganz so verrückt wie vielleicht die etwas jüngeren. Aber das Handy hat natürlich unser aller Leben beeinflusst.
Hast du mal über einen TikTok-Account nachgedacht?
Nein.
Du hast eben vom Rollenverständnis gesprochen. Wann bist du denn dabei? Bist du bei jeder Sitzung mit dabei?
Bei den meisten Sitzungen.
Du hast ja ein paar Monate mit Hansi Flick gearbeitet. Hast du da irgendwelche Erkenntnisse sammeln können, welche Fehler man vermeiden müsste?
Auf Hansi lastete der schwere Rucksack des Ausscheidens in Katar. Das war der entscheidende Unterschied – Julian konnte unbelastet loslegen. Auch bei diesem Turnier. Der Auftaktsieg, der in Katar gefehlt hat, war enorm wichtig, dieses Glücksgefühl, dass wir es können. Wir sind bei der EM auf Augenhöhe. Auch das Zusammenspiel mit den Zuschauern darfst du nicht unterschätzen. Egal, wo wir hinkommen, es herrscht eine Riesenbegeisterung. Dennoch bleiben wir auf dem Boden. Es geht jetzt darum, den Schwung mitzunehmen und weiter unseren Weg zu gehen.
Du strahlst eine unglaubliche Zuversicht aus, auch bei der Pressekonferenz. Das glaubt man dir auch sofort. Aber gab es beim 1:1 gegen die Schweiz nicht einen Moment, in dem du beunruhigt warst, weil es nicht rund lief?
Es war unser Ziel, Gruppenerster zu werden. Das stand dann logischerweise durch das zwischenzeitliche 0:1 auf der Kippe. Aber dass wir am Ende das Tor gemacht haben, das 1:1 in letzter Minute, war doch hochverdient. Die Schweizer haben uns ja nicht an die Wand gespielt. Auch wenn es auf unserer Seite ein paar Ungenauigkeiten und ein paar Fehlpässe gab, geht das Endergebnis mehr als in Ordnung.
Die Außenwahrnehmung ist eine andere als in Katar, wo man ja auf jedem Fehler rumgehackt hat. Und jetzt ist man, ich sag mal, etwas großzügiger bei Fehlern in der deutschen Mannschaft. Siehst du das auch so, dass die Öffentlichkeit großzügiger mit der Mannschaft umgeht? Und dass das viel mit dir zu tun hat?
Ob das mit mir zu tun hat, weiß ich nicht. Dass manche Dinge nicht mehr so kritisch gesehen werden und Euphorie entfacht ist, hängt eher mit den Siegen in den Testspielen gegen Frankreich und Holland im März zusammen; die haben etwas bewirkt. Und der Sieg gegen die Schotten. Das Eröffnungsspiel so zu gewinnen bei einer Heim-EM, ist natürlich großartig. Vorher gab es schon eine große Anspannung, auch bei mir, da ich bin ehrlich. Weil so ein Spiel wegweisend ist.
Ich habe gehört, dass ihr wieder eine DFB-Doku macht, dass dort im EM-Quartier gefilmt wird.
Wir halten in Eigenregie fest, was bei dieser EM rund um die Mannschaft passiert. Und dann werden wir selbst entscheiden, was am Ende daraus wird.
Das heißt: Die EM-Doku gibt’s nur im Erfolgsfall zu sehen?
Das werden wir dann in aller Ruhe besprechen, was der Erfolgsfall bedeutet.
Wie würdest du „Erfolgsfall“ definieren? Wann ist es eine erfolgreiche EM?
1990 hatten wir eine super Gruppenphase gespielt, hatten sieben Punkte, waren klar durch. Auf einmal sind wir im Achtelfinale auf die Holländer getroffen, weil sie in ihrer Gruppe dreimal unentschieden gespielt haben. Wir wollten nicht gegen die Holländer spielen im Achtelfinale. Das war nicht unser Wunsch. Viele erinnern sich an die Auseinandersetzung mit Frank Rijkaard. Aber dass die Holländer vorher zwei Riesenchancen hatten und wir in Rückstand hätten geraten können, wird manchmal vergessen. Ähnlich war es 2014 gegen Algerien. Wir erinnern uns natürlich viel lieber an das 7:1 gegen die Brasilianer und das Götze-Traumtor im Finale. Aber gegen die Algerier hätte es uns auch erwischen können. Das war ganz knapp. Deshalb sind wir gewarnt vor dem Achtelfinale.
Warum so vorsichtig?
Wir wollen auf dieser Welle weiterschwimmen. Deshalb bleiben wir fokussiert.
Und dann kommt Spanien.
Wir sollten nicht vergessen: Wir sind noch nicht im Viertelfinale - aber die Spanier auch noch nicht. Spanien hat sich durch die bisherigen Auftritte zum Favoriten gespielt. Aber im Fußball ist alles möglich.
Dass du überhaupt wieder zum DFB zurückgekehrt bist: Welche Rolle hat deine Frau da gespielt? Mir wurde zugetragen, dass Jonas Boldt ziemlich Vorarbeit geleistet haben muss.
In der DFB-Taskforce wurde damals diskutiert, wen wir für die A-Mannschaft als Sportdirektor einsetzen können, um Hansi Flick als Bundestrainer zu unterstützen. Wir haben einige Namen durchgespielt und Aki Watzke war an vorderster Front, als jeder sagte: Ja, mach du es doch, Rudi, du bist die beste Lösung! Ich habe dann ein paar Tage überlegt, mich mit meiner Frau ausgetauscht und natürlich noch mit ein paar anderen Menschen. Da war Jonas auch dabei, auch einige weitere Vereinsverantwortliche wie Axel Hellmann oder Fernando Carro, viele, die ich schon seit Jahren gut kenne. Auch Freunde, die gesagt haben, du musst das machen. Und dann habe ich es auch gemacht.
Du hast den Vertrag verlängert bis 2026, dann wirst du 66. Andere Leute sind da, Entschuldigung, in Rente.
Ja, selbst dran schuld, kann man nur sagen. (schmunzelt)
Muss man da nicht langsam, also ganz ehrlich, einen Generationswechsel einleiten?
Der wird auch eingeleitet. Julian Nagelsmann bleibt bis zur WM 2026. Das war eine gute Entscheidung von ihm, von uns allen, auch von Andreas Rettig und unserem Präsidenten Bernd Neuendorf. Wir haben schon vor den entscheidenden Spielen gegen Frankreich und Holland versucht, dass er weitermacht, auch in dieser Konstellation mit mir. Dann ist es auch selbstverständlich, dass ich ebenfalls bis 2026 bleibe.
Ist es dir unangenehm oder angenehm, dass du so einen Kultstatus hast? Also da gibt es ja bei den Fans sogar einen inzwischen berühmten Saxophonspieler, der dein Trikot trägt. Und der hätte ja auch 26 Spieler nehmen können, sind ja genug zur Auswahl. Bedeutet dir das was?
Das freut mich natürlich, das ist für mich auch nicht selbstverständlich. Ich empfinde das immer noch als Privileg. Ich freue mich darüber. Man kann nicht immer alle glücklich machen. Aber ich versuche es.
Letzte Frage: In einem Werbefilm des DFB für das pinke Trikots geht es auch um Döner. Du selbst hast mit 64 zum ersten Mal einen gegessen. Wieso das denn?
Das ist eine gute Frage. Wahrscheinlich ist es Zufall. Natürlich kommt das auch daher, dass ich viel in Italien bin und dort eingeheiratet habe. Deswegen steht natürlich eher eine Pizza auf dem Tisch, wenn ich mal mit meinen Jungs einen Film gucke.