Mehr als 35.000 Tote nach Erdbebenkatastrophe

Fast eine Woche nach der Erdbeben-Katastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Zahl der Toten auf mehr als 35 000 gestiegen.

Die Zahl der Erdbebenopfer in Syrien ist deutlich höher als bislang angegeben. Nach Informationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind in den Rebellengebieten im Nordwesten mindestens 4.500 Menschen ums Leben gekommen, in Regionen unter Regierungskontrolle etwa 1.400.

Die Zahlen nannte der Nothilfekoordinator für die WHO-Region Östliches Mittelmeer, Richard Brennan, am Samstag in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Die Zahl dürfte aber weiter steigen, sagte Brennan. Die Gesamtzahl der Toten in der Türkei und Syrien steigt damit auf mehr als 35.000.

Zudem verloren viele Menschen ihr Zuhause: Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan suchten inzwischen mehr als 1,5 Millionen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz.

Oktay sagte weiter, die Staatsanwaltschaften hätten auf Anweisung des Justizministeriums in zehn Provinzen, die von den Erdbeben betroffen waren, Abteilungen für die Untersuchung von Verbrechen im Zusammenhang mit den Erdbeben eingerichtet. Ermittelt worden seien 131 Menschen, die verantwortlich für Gebäude seien, die zusammengestürzt seien. Einer sei verhaftet worden. Gegen 113 weitere sei Haftbefehl erlassen worden.

Der türkische Städteminister Murat Kurum sagte, mittlerweile seien knapp 172.000 Gebäude in zehn Provinzen überprüft worden. Festgestellt worden sei, dass rund 25.000 schwer beschädigt worden seien oder dringend abgerissen werden müssten.

UN-Nothilfekoordinator rechnet mit 50 000 Toten oder mehr nach Beben

Die Zahl der Todesopfer könnte nach Schätzungen der Vereinten Nationen noch auf 50 000 oder mehr steigen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte dem Sender Sky News am Sonntag im Erdbebengebiet Kahramanmaras, Schätzungen seien schwierig, aber die Zahl der Todesopfer könnte sich «verdoppeln oder mehr». «Und das ist erschreckend», sagte er.

Die Situation sei «zutiefst schockierend» - «die Vorstellung, dass diese Trümmerberge noch immer Menschen enthalten, einige von ihnen noch am Leben, viele tot», sagte Griffiths. Er habe viele Konflikte und Kriege erlebt, aber Zehntausende Menschen in einer Nacht zu verlieren, das habe er bei anderen Konflikten noch nicht gesehen. Griffiths zeigte sich beeindruckt von dem Einsatz der Rettungskräfte, sowohl von türkischer Seite, als auch von dem der internationalen Retter.

Weiterer Bauunternehmer in der Türkei nach Beben festgenommen

Sechs Tage nach dem verheerenden Erdbeben sind zwei weitere Bauunternehmer in der Türkei festgenommen worden. Ein Unternehmer, der für die Bauleitung zahlreicher eingestürzter Gebäude in Adiyaman verantwortlich gewesen sein soll, sei mit seiner Ehefrau am Istanbuler Flughafen gefasst worden, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Sonntag. Die beiden hätten sich mit einer großen Menge Bargeld nach Georgien absetzen wollen.

Nach offiziellen Angaben ermitteln die Staatsanwaltschaften inzwischen gegen mehr als 130 Menschen, die dafür verantwortlich sein sollen, dass Gebäude eingestürzt sind. Gegen mehr als 100 wurde bereits Haftbefehl erlassen.

Die Opposition sieht auch Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Verantwortung und wirft ihm vor, es in seiner 20-jährigen Regierungszeit versäumt zu haben, das Land auf ein solches Beben vorzubereiten.

Fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden aus Trümmern gerettet

Mehr als fünf Tage nach den verheerenden Erdbeben sind noch Überlebende aus den Trümmern geborgen worden. In Antakya sei ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt worden, berichtete der staatliche türkische Fernsehsender TRT. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das sichtlich entkräftete Kind wurde nach seiner Befreiung an Rettungssanitäter übergeben.

Zudem ist ein sieben Monate altes Baby in der Südosttürkei aus den Trümmern gerettet worden. Die Helfer konnten den Jungen in der Provinz Hatay nach 140 Stunden lebend aus den Trümmern bergen, wie der Staatssender TRT berichtete. Sie hätten das Kind weinen gehört und seien so auf es aufmerksam geworden. Ein 35-Jähriger wurde nach Angaben des Senders in derselben Provinz am Sonntagmorgen nach 149 Stunden unter Trümmern gerettet.

In Antakya wurde laut einer Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zudem ein sechsjähriger Junge gerettet, der 137 Stunden lang unter Schutt begraben war. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. In Iskenderun bargen laut Anadolu Hilfskräfte einen 44-jährigen Mann nach 138 Stunden aus den Trümmern.

Seuchengefahr wächst

«In den Regionen, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drohen irgendwann Seuchen», sagte Thomas Geiner, erdbebenerfahrener Mediziner und Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis. «Die Kunst der nächsten Tage wird es sein, Hilfe dorthin zu bringen, wo sie benötigt wird.» Bei der Größe der Region sei es aber so gut wie unmöglich, überall die nötige Infrastruktur bereitzustellen. Die betroffenen Gebiete sind flächenmäßig größer als Deutschland.

Durch die vielen ungeborgenen Leichen könne Wasser verunreinigt werden. Vielerorts haben Leute zudem keinen Zugang zu irgendeiner Art von Toiletten. Auch dadurch könnten Keime in das Grundwasser gelangen. Geiner sagte, die Situation vor Ort erinnere ihn an die in Haiti nach dem Erdbeben 2010. In der Region sehe man alles an Verletzungen, was man sich vorstellen könne. Es brauche alles an möglicher Hilfe. Die Gesundheitsinfrastruktur ist stark beschädigt.

WHO: Hilfe schnell ausweiten

Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 am Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad mitteilte.

In den zehn betroffenen Provinzen in der Türkei ist inzwischen ein dreimonatiger Ausnahmezustand in Kraft getreten. Mit dem Ausnahmezustand können laut Nachrichtenagentur Anadolu öffentliche Einrichtungen, Organisationen oder «juristische und natürliche Personen» in der Region dazu verpflichtet werden, unter anderem Ausrüstung, Grundstücke, Gebäude, Fahrzeuge oder Medikamente abzugeben.

Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Hilfe deutlich ausgeweitet werden. «Wir müssen mit größerer Dringlichkeit und in größerem Umfang handeln und uns besser organisieren», sagte Richard Brennan, der WHO-Nothilfedirektor für die Region Östliches Mittelmeer am Samstag in Aleppo. Die Toten- und Verletztenzahlen seien immens. Was aber oft vernachlässigt werde, seien die vielen Obdachlosen. Allein in Aleppo im von der Regierung kontrollierten Teil Nordwestsyriens haben nach Schätzungen rund 200.000 Menschen das Dach über dem Kopf verloren. Auch WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus traf am Samstag in Syrien ein.

Griechenland und Türkei nähern sich nach Erdbeben diplomatisch an

Nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei gibt es eine vorsichtige Annäherung mit dem Nachbarstaat Griechenland inmitten vieler Konflikte zwischen den beiden Ländern. Der griechische Außenminister Nikos Dendias flog am Sonntag überraschend in das Katastrophengebiet und traf sich mit dem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu. Die beiden Politiker umarmten sich, wie das staatliche griechische Fernsehen zeigte. Griechenland habe sofort Hilfe geleistet. Dafür bedankte sich Cavusoglu. Die Staaten werden in einem Dialog versuchen, ihre Probleme zu lösen, fügte er hinzu.

Dendias versicherte: «Griechenlands Hilfe an das türkische Volk endet nicht hier.» Athen werde «alles tun» - bilateral und auch im Rahmen der EU -, um der Türkei zu helfen, fügte Dendias hinzu. Er sei der erste EU-Außenminister, der das Katastrophengebiet besucht, berichtete das griechische Staatsfernsehen. In der Region Antakya und Hatay sind mehrere griechische Rettungsmannschaften im Einsatz.

UN-Koordinator: «Menschen im Nordwesten Syriens im Stich gelassen»

Nach der Erdbebenkatastrophe haben die Vereinten Nationen Versäumnisse eingeräumt bei der Hilfe für die Opfer im Nordwesten Syriens. «Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen», schrieb der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Sonntag bei Twitter während eines Besuchs in der syrisch-türkischen Grenzregion. Diese Menschen hätten das Gefühl, man habe sie aufgegeben. «Sie halten Ausschau nach internationaler Hilfe, die nicht eingetroffen ist.» Es sei seine Pflicht, diese Fehler so schnell wie möglich korrigieren zu lassen, erklärte Griffiths.

Der Nordwesten Syriens, der von den Erdbeben besonders stark getroffen wurde, wird von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert. Derzeit gibt es nur einen Grenzübergang (Bab al-Hawa), über den die Vereinten Nationen Hilfe in Gebiete liefern können, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Die syrische Regierung will humanitäre Hilfe komplett durch die von ihr kontrollierten Gebiete fließen lassen.

VIDEO: Helfer bitten um Stille: Lebt da noch jemand unter den Trümmern?