"Selbstentfremdung wird zur Gefahr": Über den Schönheitswahn auf Social Media

Filter nutzen, um zu tricksen: Viele Frauen bearbeiten ihre Bilder online so, als hätten sie Filler oder Botox genutzt, um makelloser auszusehen. Ist Social Media also eine Art Zwischenstop auf dem Weg in die Praxis der kosmetischen  Chirurgie? (Bild: ZDF / VPRO 2021)
Filter nutzen, um zu tricksen: Viele Frauen bearbeiten ihre Bilder online so, als hätten sie Filler oder Botox genutzt, um makelloser auszusehen. Ist Social Media also eine Art Zwischenstop auf dem Weg in die Praxis der kosmetischen Chirurgie? (Bild: ZDF / VPRO 2021)

"Die Kluft zwischen unserem virtuellen und unserem echten Bild wird immer größer", sagt Heather Widdows als eine von vielen Expertinnen und Experten in einer bemerkenswerten TV-Doku über den "Schönheitswahn in Zeiten von Social Media".

"Strebt man nach Perfektion, findet man immer irgendetwas, das noch korrigiert werden kann", beteuert Kasia Dolkowska. Zwei Brust-, und eine Po-Vergrößerung sowie mehrere Botox-Injektionen in den Lippen später muss es die Sängerin schließlich wissen. Aus ihrem Instagram-Feed strahlt einem die scheinbar perfekte Kasia entgegen, faltenfrei und mit einwandfreiem Teint. Aber: Alles nur Show. Die 36-Jährige gibt offen zu: "Würde ich damit aufhören, die Filter auf Instagram zu verwenden, würde ich Follower verlieren." So ist das Leben in der Social Media-Welt, die voll ist von Schummelei, surrealen Schönheitsidealen und inszenierter Perfektion. Wie das funktioniert, aber vor allem, was das alles mit den Menschen macht, zeigt ein äußerst sehenswerter Beitrag bei ZDFinfo am Freitag, 16. September, um 20.15 Uhr. Die Dokumentation "Wahnsinnig schön - Der Kult ums Aussehen" ist bereits ab Freitag, 9. September, auch in der ZDFmediathek zu sehen.

Das Problem ist: Genau wie Kasia Dolkowska greifen nicht nur immer mehr Erwachsene, sondern auch bereits Jugendliche auf der Suche nach Perfektion vermehrt zu Schönheits-OPs. "Sich die ganze Zeit mit seinem Äußeren zu beschäftigen, sich kritisch bis ins kleinste Detail daran abzuarbeiten, das macht nicht unbedingt glücklicher. Es kann sogar unglücklicher machen", erklärt die Soziologin Sylvia Holla im Interview im Rahmen des TV-Beitrags. Das Gesicht der Gesellschaftswissenschaftlerin dient als Beispiel, um die Macht von Filtern und korrigierter Optik zu verdeutlichen. Sie sagt: "Menschen, die von anderen als schön angesehen werden, hatten schon immer einen Vorsprung bei romantischen oder sexuellen Beziehungen. Schöne Menschen haben größere Chancen in Bewerbungsgesprächen."

Gesichter in Echt und mit einem Filter überschrieben können im direkten Vergleich kaum unterschiedlicher sein. Frauen, die sich für einen kosmetischen Eingriff entscheiden, erhoffen sich häufig diese Optik und zeigen daher bearbeitete Bilder von sich als Leitfaden für die Chirurgen.  (Bild: ZDF / VPRO 2021)
Gesichter in Echt und mit einem Filter überschrieben können im direkten Vergleich kaum unterschiedlicher sein. Frauen, die sich für einen kosmetischen Eingriff entscheiden, erhoffen sich häufig diese Optik und zeigen daher bearbeitete Bilder von sich als Leitfaden für die Chirurgen. (Bild: ZDF / VPRO 2021)

"Vielfalt ist eher eine Parole"

Die ganze Sendung zielt darauf ab, die Gefahren der Schönheitsideale in Zeiten von Social Media klar herauszustellen. In diesem Zusammenhang werden Experten unterschiedlicher gesellschaftlicher und medizinischer Bereiche herangezogen, um den Zuschauerinnen und Zuschauern einen Einblick zu gewähren. Auch über die Motive hinter dem Schönheitswahn im Netz. "Die meisten Menschen wollen mit einem kosmetischen Eingriff eine bessere Version ihrer selbst erschaffen", versucht es der Plastische Chirurg Dr. Tom Decates aus den Niederlanden zusammenzufassen. Filter diverser Apps würden dazu verleiten, nach einem Idealbild von sich zu streben, das es so nicht gibt. Und dann kommt eben oft die Chirurgie ins Spiel.

Kann Instagram also eine Art gefährlicher Spiegel für die Selbstwahrnehmung werden? Der Film ist drauf und dran, eine Antwort zu finden. "Vor allem junge Menschen überlegen häufig und lange, wie sie sich öffentlich am besten präsentieren", bringt es Sylvia Holla auf den Punkt. "Selbstentfremdung wird zur Gefahr, wenn man sein Äußeres so stark nach fremden Vorbildern gestaltet."

Gesellschaflticher Druck und Zwänge spielen dabei eine entscheidende Rolle. Den Machern des Films ist es ein besonderes Anliegen, genauer hinzusehen, wenn in der heutigen Zeit die Rede von Diversität, Inklusion und #bodypositivity ist. "Vielfalt ist eher eine Parole. In der Modebranche wird sie auf sehr gekünstelte Weise eingesetzt", sagt die Philosophin Heather Widdows im Interview. Die Autorin des Buchs "Perfect Me: Beauty as an Ethical Ideal" räumt zwar ein, dass es mittlerweile etwas mehr Diversity gebe, diese jedoch vielmehr oberflächlicher Art sei. Dem stimmt auch Modeaktivistin Janice Deul zu: "Man sieht schon einen Wandel. Es wirkt jedoch so, als würde jeder auf den Zug mitaufspringen, nur weil Vielfalt im Trend zu sein scheint."

Das Gesicht der Soziologin Sylvia Holla dient als Beispiel, um die Macht von Filtern und korrigierter Optik zu verdeutlichen. Sie sagt: "Menschen, die von anderen als schön angesehen werden, hatten schon immer einen Vorsprung bei romantischen oder sexuellen Beziehungen. Schöne Menschen haben größere Chancen in Bewerbungsgesprächen."  (Bild: ZDF / VPRO 2021)

Mode-, Musik-, und Sportbranche nur eine Farce in Sachen "Diversity"?

"Ich erlebe teilweise 18-jährige Mädchen, die Teil einer Girl-Band werden, und ihr Management sagt, sie müssen sich Lippen und Brüste machen lassen", berichtet Dr. Decates, der freimütig zugibt: "Ich stamme aus einer Ärztefamilie und wollte auch Arzt werden. Ich mochte aber auch die Kunst, etwas zu erschaffen. Mit der kosmetischen Medizin kann ich also beides verbinden."

Dennoch betont er immer wieder im Interview, dass es ihm wichtig sei, Frauen mit viel Beratung und Information dazu zu bringen, umsichtiger im Umgang mit sich selbst zu werden. Zugegebenermaßen fällt dies natürlich in Anbetracht der aktuellen verzerrten, fast realitätsfernen Schönheitsideale, die sowohl in Musikvideos als auch auf Zeitschriften-Covern nach wie vor zu finden sind, weitaus schwerer. Schnell wird vergessen, dass beispielsweise eine Cardi B. oder eine Kylie Jenner noch vor ein paar Jahren ganz anders aussahen als heute. Der Film bedient sich an Ausschnitten des Musikvideos "WAP" (Cardi B. feat Megan Thee Stallion), um über Fettabsaugung, gemachte Brüste und Pos sowie künstliche Nägel und Lippen zu referieren.

Den medialen Druck, einer gewissen Optik zu entsprechen, empfinden jedoch nicht nur Frauen. "Es ist wie ein Spiel auf Social Media, bei dem man mitmachen muss. Eigentlich hasse ich es, immer perfekt aussehen zu müssen", gibt Influencer Jesper Schellens seufzend zu. "Ich möchte den Menschen aber helfen, sie inspirieren. Gutes Aussehen hilft mir dabei sehr." Und ohne Selbiges geht offenbar nichts mehr.

Gilt es, die Medien als "Sprachrohr unserer Zeit" stärker in die Pflicht zu nehmen? "Warum können wir nicht Mode und Magazine dazu nutzen, dass sich wirklich jeder sexy und gut fühlt?" - Die Frage stellt in dem Film die Aktivistin Janice Deul in den Raum. Vielleicht mag in den Medien wirklich ein Teil der Lösung liegen. Aber vor allem kommt es auf jeden selbst an - das macht dieser Film unmissverständlich klar. Es wird deutlich, dass eine gewisse Distanz zu sämtlichen Social Media-Beiträgen und Filterfunktionen für die meisten Menschen unerlässlich bleibt, um zu einem gesunden Selbstbild zu finden. "Was man den ganzen Tag sieht, beeinflusst, wie man über sich selbst denkt. Sobald sich die Bilder ändern, werden wir Schönheit anders wahrnehmen", resümiert die Designerin für digitale Mode Amber Jae Slooten. Die Wissenschaftsjournalistin Sylvia Holla sagt: "Wir brauchen doch mehr als nur die ästhetische Oberfläche, um uns mit einem Model identifizieren zu können. Am Ende ist es keine Frage: 'Die Schönheitsideale erschaffen wir selbst!"

Nicht nur Frauen werden zu oft nach ihrem Äußeren beurteilt. Auch Männer fühlen sich beispielsweise von Schönheitsidealen aus Sozialen Medien unter Druck gesetzt. Es geht so weit, dass Männer online spezielle Filter nutzen, um durch exakte Schattierungen die Muskulatur hervorzuheben.  (Bild: ZDF / VPRO 2021)
Nicht nur Frauen werden zu oft nach ihrem Äußeren beurteilt. Auch Männer fühlen sich beispielsweise von Schönheitsidealen aus Sozialen Medien unter Druck gesetzt. Es geht so weit, dass Männer online spezielle Filter nutzen, um durch exakte Schattierungen die Muskulatur hervorzuheben. (Bild: ZDF / VPRO 2021)