Talk bei Anne Will: Mehr oder weniger Europa wagen?

Die Runde bei Anne Will diskutiert über den Zustand Europas. Doch Lösungen zur Besserung bringt niemand vor. Foto: Screenshot / ARD
Die Runde bei Anne Will diskutiert über den Zustand Europas. Doch Lösungen zur Besserung bringt niemand vor. Foto: Screenshot / ARD

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich in einem Brief an alle Bürgerinnen und Bürger Europas gewandt. Er warnt darin vor Nationalisten, die „die Wut der Völker ausnutzen“ und plädiert für eine grundlegende Reform der EU. Anne Will fragt deshalb in ihrer Runde, ob die Gefahr einer Spaltung für Europa wirklich so groß ist: Europa vor der Wahl – mehr EU oder mehr Nationalstaat?

Die Diskutanten

Manfred Weber (CSU), Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Spitzenkandidat der EVP für die Europawahl – möglicher Kommissionspräsident

Yanis Varoufakis, Spitzenkandidat der deutschen Liste „Demokratie in Europa“ für die Europawahl und ehemaliger Finanzminister Griechenlands

Beatrix von Storch (AfD), stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion

Christian Lindner (FDP), Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender im Bundestag

Cathrin Kahlweit, Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in London

Macron steht für ein Mehr an Europa ein

Die EU steht unter erheblichem Druck von innen. Großbritannien steht vor dem Brexit, Viktor Orbán macht in Ungarn Wahlkampf mit einer Anti-EU-Kampagne, der italienische Innenminister Matteo Salvini urteilt Emmanuel Macron ab. Den eingeschworenen und selbsternannten Europa-Retter Macron, der vergangene Woche einen Brief in allen 28 EU-Ländern veröffentlichte. Darin schrieb er, noch nie sei Europa so wichtig und in gleichzeitig so großer Gefahr gewesen. Vor allem durch mangelnde Demokratie und durch schwächelnde Volkswirtschaft. Er wolle verhindern, dass die Nationalisten ohne Lösungen die Wut der Menschen ausnutzten. Indem er die Freiheit und den Fortschritt schützte, beispielsweise mit einem europaweiten Mindestlohn und einer Grundsicherung, mit einer gemeinsamen Grenzpolitik und einer Klimabank.

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Christian Lindner macht den Anfang und stellt die Chancen der EU heraus, denn nur gemeinsam könne man in Zukunft noch die eigenen Werte und Interessen vertreten. „In der Digitalisierung, der Migration, in Handelsfragen auf der Weltbühne, da muss Europa stärker werden, dass aus dem gemeinsamen Handeln Gestaltungskraft erwächst.“ Aber regionale Besonderheiten müssten berücksichtigt werden. Er lehnt zudem die weitreichenden Solidar-Vorschläge Macrons, wie die gemeinsame Grundsicherung oder den gemeinsamen Mindestlohn, ab. „Risiken, Schulden und Transfers dürfen nicht zu Lasten deutscher Steuerzahler gehen.“

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Varoufakis hebt mahnend den Finger

Yanis Varoufakis möchte nicht „mehr oder weniger Europa“, sondern ein besseres und stärkeres Europa. Er gibt zu bedenken, dass seit 2008 und der Bankenkrise viele EU-Mitgliedsstaaten von unbezahlbaren Schulden geplagt würden, dass sie kaum Investitionen tätigten, vor allem nicht in grüne Energien, dass zunehmend Armut herrsche und gute Arbeitsplätze verloren gingen. „Es wird nicht funktionieren, wenn wir weiter Probleme nationalisieren. Es ist wie beim Klimawandel, regionales Handeln muss zusätzlich zum gemeinsamen europäischen Handeln sein“, sagt er.

Über den französischen Präsidenten sagt er, Macron sei seit 2015 der einzige korrekte, ehrliche und authentische Politiker, neben Wolfgang Schäuble. Doch nach dessen glühenden Rede in der Sorbonne 2017, in der Macron sich für mehr Europa aussprach und Deutschland die partnerschaftliche Hand entgegenreckte, habe das deutsche Establishment Macron den Todeskuss gegeben. „Ihr habt ihn zu Tode umarmt“, sagt Varoufakis an die Runde gewandt. Macron habe viele Vorschläge gemacht, wie er der Krise begegnen würde, aber deutsche Politiker lehnten alles nur ab. „Wir haben keine gemeinsame Lösung für die Technologiekrise, für die Schuldenkrise, für die Bankenkrise. Und ihr habt keinen Alternativvorschlag. Nicht mal mehr der europäische Mindestlohn?“

Von Storch schließt den „Dexit“ nicht aus

Beatrix von Storch geht gleich in die Vollen: „Die AfD will weniger EU. Wir wollen nationale Interessen vertreten. Wir wollen mehr Souveränitätsrechte zurückholen. Wir wollen nicht die Harmonisierung vorantreiben. Was wir in Italien sehen, ist, wie ein Staat sich national stärkt. Sie haben die Grenzen dichtgemacht, da hat sich Salvini hingestellt und die Schiffe nicht mehr anlanden lassen.“

Anne Will fragt nach: „Auf Kosten von Menschenleben. Das finden Sie gut?“

„Das ist eine Frage des Rechts.“

„Das ist im Zweifel eine Lebensfrage.“

Nach dieser kurzen Einlassung über humanes Handeln, erklärt von Storch den Beitrag der AfD zur EU. Immerhin hat die AfD im Januar die Abschaffung des EU-Parlaments gefordert, bewirbt sich aber selbst bei der Europawahl:

„Solange da Entscheidungen getroffen werden, machen wir mit. Unser konstruktiver Beitrag ist, zu erklären, wie Demokratie geht und wie nicht. In einem Parlament, wo 750 Menschen sitzen, die auch für Deutschland entscheiden, von denen wir Deutsche aber nur 96 wählen oder abwählen. So geht das nicht. Als letztes Mittel steht für uns AfD der Austritt aus der EU.“

Lindner erklärt ihr, wie die Abgeordneten im Bundestag gewählt werden: „Was sollen denn dann die Bremer sagen? Von 700 sind vielleicht fünf Bremer Abgeordnete. Trotzdem macht der Bundestag Gesetze, die auch in Bremen gelten. Ohne dass ein Bremer sagt, das sei keine Demokratie hier.“ So läuft das manchmal, wenn man als AfD erklären will, wie Demokratie geht.

Weber for President

Er könnte bald Juncker beerben und Kommissionspräsident der EU werden. Manfred Weber, er führt die EVP-Fraktion an. Deswegen macht er zunächst ein wenig Wahlkampf: „Seitdem ich Europapolitik betreibe, höre ich nur Krisenmanagement. Wir leben heute im besten Europa, das wir je hatten. In Frieden und Freiheit, wir Deutschen leben im Wohlstand.“ Er erlebe aber auch zwei Europas in seiner täglichen Arbeit: „Einerseits, wo sich Egoismen verhaken, wenn sich Regierungschefs treffen und über Einwanderung streiten. Andererseits ein Europa, das im letzten halben Jahr über 50 Richtlinien beschlossen hat. Dass wir Plastik verbieten, dass wir Klimaschutz-Vorgaben für die Autoindustrie machen, dass wir Verbrecher-Datenbanken vereinheitlichen.“

Weber muss sich zudem mit seiner Freundschaft zu Viktor Orbán auseinandersetzen. Der ist ebenfalls in der EVP, macht es der Partei mit seiner EU-feindlichen Politik in Ungarn aber ungemein schwer. „Wir haben im September bereits ein Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn gestartet. Das ist unsere stärkste Waffe, um Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Jetzt stehen wir vor der Frage, ob er Mitglied der Partei bleiben kann. Wenn er sich nicht entschuldigt, fliegt er aus der Partei.“

Ein Blick nach Großbritannien

Cathrin Kahlweit fasst es in eigenen drastischen Worten so zusammen: „Warum hat es zehn Jahre gedauert. Orbán hat in der Zeit die Verfassung umgebaut, das Wahlrecht, die Pressefreiheit und die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft abgebaut. Da sind alle großen und Regionalzeitungen in regierungsnahen Händen. Das ärgert mich, wenn wir von Demokratie-Defizit reden. Der Ausschluss durch die EVP ist doch nur symbolisch. Orbán wird ausbüxen, bevor es eng wird. Und damit als Sieger in seinem Land dastehen. Er baut mit einem kalten Lächeln Demokratie an. Die Überlegung in der EU war entweder, es gab Wichtigeres zu tun und vielleicht brauchen wir Orbán noch.“

Kahlweit lebt zudem seit zwei Jahren in England und kann ein Update zum Brexit geben: „Die Briten haben längst Abschied genommen. Selbst jene, die die EU für reformfähig halten, haben das Tischtuch zerschnitten. Die Briten haben schon damals nach dem Eintritt wieder über den Austritt gesprochen. Sie wollten nie in der EU sein. Die Befassung mit Europa ist praktisch beendet.“

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